Als ich mich am Freitagmorgen kurz vor sechs runter in unsere Küche schleppe, sitzt dort mein Mitbewohner Tim. Den schwarzen Wuschelkopf in den Händen vergraben. „It’s over“, sage ich zu ihm. Es ist vorbei. Er schaut auf, blutunterlaufene Augen: „Nein, Annette, das ist erst der Anfang. Der Anfang von etwas sehr, sehr Schlimmem.“

Tim war die ganze Nacht wach. Mit Freunden hatte er sich den Ausgang des EU-Referendums im Pub angeschaut. Um vier Uhr früh dann die bittere Gewissheit:  51,9 Prozent der britischen Wähler haben für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt.

„Das ist erst der Anfang. Der Anfang von etwas sehr, sehr Schlimmem.“

Ich setze mich gar nicht erst zu Tim. Trinke meinen Tee im Stehen. Bin selbst erst vor gefühlt zehn Minuten von der Arbeit gekommen und muss gleich wieder los. Denn bei uns im Auslandsstudio der ARD ist jetzt sicherlich die Hölle los. Wir hatten zwar alles Mögliche vorbereitet, Pläne für den Fall, dass – aber nein, ernsthaft geglaubt hat an einen Brexit doch niemand. Dünn, aber immerhin mit vier Prozent Vorsprung wähnte eine der letzten Umfragen am Wahlabend die EU-Befürworter vorne. Ich war mir sicher: Spätestens an der Wahlurne würden die meisten Briten vor dem Sprung ins Ungewisse zurückschrecken.

Als mir Tim am Freitagmorgen erzählt, dass er jetzt Angst um seinen Job habe, lache ich kurz auf. Nun mal langsam, wird schon nicht so schlimm. „Du hast gut reden“, entgegnet er gereizt. Ich mit meinem deutschen Pass. Er aber, er werde auf dieser Insel festsitzen. Tatsächlich hat Tims NGO erst vor ein paar Tagen ihre Finanzierungsstrategie für die nächsten fünf Jahre veröffentlicht: Der Großteil des Geldes kommt von der EU. Mein Freund wollte im September seinen Job wechseln. Jetzt muss auch er sich gut überlegen, wohin. Der Brexit betrifft hier jeden Einzelnen. Ganz besonders junge Menschen wie uns.

Als ich an diesem Tag  mit meinem Rad durch das verschlafene London fahre, scheint alles wie immer. Die roten Doppeldeckerbusse fahren noch, und die Flugzeuge ziehen ihre üblichen Bahnen. Plötzlich verschwimmt die neue Zukunft zu einem bösen Traum.

Durch das Land geht ein Riss

Als ich bei der ARD ankomme, jagt eine Pressekonferenz die nächste: Farage ruft mit breitem Lächeln den neuen Unabhängigkeitstag aus. David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Jean-Claude Juncker spricht in Brüssel. Merkel in Berlin. Der Chef der britischen Zentralbank tritt vor die Presse und verkündet Notmaßnahmen, um den Markt zu beruhigen. Der Sieger des Referendums, Boris Johnson, positioniert sich als möglicher Premierminister und wirkt auf mich doch irgendwie, als sei er selbst überrascht über das Ergebnis. Und Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, warnt: Ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum ist „sehr wahrscheinlich“. Die Gesetze hierfür bringt sie zur Sicherheit schon mal auf den Weg. Währenddessen fällt das Pfund auf ein 30-Jahres-Tief, und am Ende des Tages sind mehrere Billionen Euro vom weltweiten Aktienmarkt gefegt.

Im Ersten sendet man fast ununterbrochen durch zum Thema Brexit. Am Nachmittag fahre ich mit Kameramann und Tonfrau auf der Suche nach kleinen Geschichten ins hippe Dalston im Nordosten Londons. Augen zu und durch. Planen kann man heute nichts, wir funktionieren auf Zuruf und hangeln uns von Beitrag zu Beitrag .

Das Referendum hat im Königreich tiefe Wunden gerissen. Es spaltet das Land: Denn sieht man sich die Ergebnisse an, dann stimmte hier nicht nur Reich gegen Arm, Land gegen Stadt und Gebildet gegen Ungebildet, sondern vor allem auch Jung gegen Alt. Während fast drei Viertel der unter 24-Jährigen in der EU bleiben wollten, waren es bei den Alten nur 40 Prozent.

„Shit, jetzt sitze ich hier fest“

Ich renne in Dalston blind in einen Hinterhof. Früher haben hier mal junge Aktivisten gegärtnert und Mittagessen aus abgelaufenen Zutaten gekocht. Jetzt sind eine Mikrobrauerei und ein kleines Café mit Bäckerei eingezogen. Gebacken wird in einem blau angestrichenen Container. Davor bunte Blumentöpfe. Ich spreche eine junge Frau an, die unablässig Teig knetet. Rebecca. Ihre langen Haare werden von einem bunten Kopftuch zurückgehalten, die Latzhose ist voller Mehl. Rebecca ist eine von den drei Inhabern des „Dusty Knuckle“. Vor kurzem ist sie aus dem Spanienurlaub wiedergekommen, erzählt sie mir freudig, und dachte sich nur so: „Oh yeah man, I love Europe.“ Doch als sie heute Morgen aufwachte, war da nur diese eine Frage: Shit, was passiert jetzt? „Jetzt sitze ich hier fest“, sagt mir Rebecca ins blaue Puschelmikrofon, „auf dieser Insel voller Rassisten und komm nie wieder weg.“

Rebecca schaut mich besorgt an, ihre Hände bleiben kurz im angerührten Brotteig stecken. „Ich glaube, die extreme Rechte hat mit diesem Referendum eine viel stärkere Stimme in der Politik bekommen.“ Tatsächlich war Immigration das Thema der EU-Gegner. „Take back control“, lasst uns die Kontrolle zurückholen, war das Motto von polternden Politikern wie Boris Johnson. Und der Rechtspopulist Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, kurz Ukip, fährt eine Woche vor dem Referendum stolz mit ausländerfeindlichen Postern durchs Land: „Breaking Point“. Das Boot ist voll, lautet seine Message.

Genau an diesem Tag wird denn auch die junge europafreundliche Parlamentsabgeordnete Jo Cox niedergestochen. Der Täter: ein 52-jähriger Engländer. Fast scheint es, als hole er sich die Kontrolle zurück – und dreht durch. Als er bei der Vernehmung nach seinem Namen gefragt wird, sagt er nur: „Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien.“

Um die Ecke von Rebeccas Laden spaziert eine ältere Dame vorbei. Ich spreche sie an. Natürlich habe sie „Leave“ gewählt, also raus, sagt sie mir. Vor der Kamera erklärt die 72-jährige Beryl dann, dass sie die EU nicht möge, weil sie undemokratisch sei. Als ich nachhake, kommt auch sie auf das Einwanderungsthema zu sprechen: Ihr Sohn sei Arzt, erklärt sie. Das Gesundheitssystem sei überlaufen. Wir leben nun einmal auf einer Insel, wo der Platz begrenzt ist. Solche Dinge sagt Beryl dann. Sie, die selber ein Kind von Einwanderern ist, wie sie mehrfach betont.

Wut im Bauch 

Wenn man Menschen wie Beryl so reden hört, ahnt man: Das Problem sitzt noch viel tiefer. Ganze Bevölkerungsschichten sind von der Politik in den letzten Jahren vergessen und rechts liegen gelassen worden. Seit Margaret Thatcher und ihrer neoliberalen Politik in den 80er-Jahren ist nicht nur die Ausländerfeindlichkeit, sondern vor allem auch die Existenzangst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ganze Industriezweige haben zugemacht. Familien müssen oft mehrere Jahre in Hostels hausen, bevor man Sozialwohnungen für sie findet, und Sparmaßnahmen führen zu überforderten Gesundheitssystemen.

Nachdem sich die Ereignisse am Freitag überschlagen haben, sind viele Politiker für das Wochenende untergetaucht. Die Finanzmärkte machen erst Montag wieder auf. Am Samstag fahre ich deshalb raus zu Albert, meinem jüngst erworbenen Hausboot. Vor dem Referendum witzelte ich noch herum, im schlimmsten Fall benenne ich Albert in Noah um und schippere mit ihm von der Insel. Ernst?

Erst langsam fange ich an zu begreifen, was das Referendum eigentlich bedeutet. Wut steigt in meinem Bauch auf. Wut auf die alten Menschen, die dem Land eine Entscheidung aufzwingen, mit deren Folgen dann die Jungen leben müssen. Wut auf Politiker, die mit diesem Referendum die Quittung für die letzten zehn Jahre verfehlter Politik bekommen haben und jetzt wieder keine Zeit für die wirklich wichtigen Probleme dieses Landes haben. Eine ganze politische Generation wird allein damit beschäftigt sein, die über 40 Jahre alte EU-Mitgliedschaft abzuwickeln. Und nicht zuletzt Wut auch darüber, dass so viele gegen uns Ausländer – und gefühlt auch gegen mich ganz persönlich ­– gestimmt haben. Meinem Leben auf der Insel scheint plötzlich ein klarer Schlussstrich gesetzt. Auch wenn niemand weiß, ob, wie oder wann. Denn bis jetzt kann niemand wirklich sagen, wie die Zukunft aussieht.

Fotos: Mary Turner; ANDREW TESTA/NYT/Redux/laif