1. Viele Länder beteiligen die Arbeiter am Wachstum, aber Deutschland nicht:

Es war nach einem Abendessen der europäischen Regierungschefs, als Mario Draghi, Europas oberster Zentralbanker, einen Vortrag hielt und erzählte, dass es innerhalb der Euro-Zone zwei Arten von Ländern gebe: jene mit einem Überschuss im innereuropäischen Handel und solche mit einem Defizit. Nur Letztere seien das Problem. Denn dort, in Spanien, Italien und Frankreich, seien die Löhne seit dem Euro-Start weit schneller gestiegen als die Produktivität. Darum seien diese Länder nicht wettbewerbsfähig. Und damit es auch jeder verstand, hatte Draghi Schaubilder verteilen lassen: Auf denen sah man bei den Verliererländern steil in die Höhe schießende Lohnkurven über nur leicht steigenden Linien für den Fortschritt bei der Produktivität. Bei Deutschland dagegen liefen beide Linien bis zur Finanzkrise annähernd parallel. Folglich müssten die Defizitländer ihre Arbeitsmärkte reformieren, sprich: die Lohnkosten senken.

Der Ökonom Andrew Watt vom Düsseldorfer Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung erkannte den Fehler beim Blick auf die Grafiken sofort. Die Werte für die Produktivität waren inflationsbereinigt, die für die Lohnentwicklung dagegen nicht. Mit den richtigen Daten hätten die Grafiken ein ganz anderes Bild ergeben. Dann nämlich hätten sie gezeigt, dass zum Beispiel in Frankreich die Löhne – abzüglich der Inflation – parallel zur Produktivität zulegten und nicht mehr. Was der technische Fortschritt also an zusätzlicher Wertschöpfung ermöglichte, wurde prozentual auch auf die Löhne umgelegt, damit die Arbeiter auch was davon haben. In Deutschland dagegen sind die realen, inflationsbereinigten Löhne und Gehälter seit 2004 weit weniger gestiegen als die Produktivität. Der Anteil, den die Arbeitnehmer vom Wirtschaftskuchen abbekommen, wurde also fortwährend kleiner. Und genau das verschaffte deutschen Unternehmen einen stetig wachsenden Vorteil gegenüber Konkurrenten aus den anderen Euro-Staaten.

2. Weil andernorts die Löhne stiegen, konnten dort deutsche Produkte gekauft werden:

Deutschlands Wirtschaft konnte nur deshalb prosperieren, weil die anderen Euro-Staaten eben nicht denselben Weg gingen. Der größte Teil der zusätzlichen Produktion der vergangenen zehn Jahre, die Arbeitsplätze und Steuereinnahmen hierzulande sicherte, wurde ja nicht in Deutschland verkauft. Dafür mangelte es an der nötigen Nachfrage, weil die Löhne gedrückt wurden und folglich der Binnenmarkt stagnierte. Umso mehr exportierte die deutsche Wirtschaft ins Ausland, und davon wiederum den größten Teil nach Europa. Das aber war nur möglich, weil die meisten anderen Euro-Staaten bis zur Finanzkrise einen enormen Wachstumsschub erfuhren, der über steigende Löhne erst die Nachfrage für deutsche Produkte erzeugte.

Die Frankfurter Euro-Hüter befeuerten noch den enormen Zufluss an Krediten in diese Länder. Damit wurden die Immobilienblasen und die Überkonsumption von Athen bis Lissabon finanziert, die den heutigen Krisenländern schließlich zum Verhängnis wurden. Oder mit den Worten des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Paul Krugman: „Deutschland glaubt, es sei aufgrund seiner eigenen Verdienste erfolgreich. Aber in Wahrheit beruht dies zu großen Teilen auf einem inflationären Boom im übrigen Europa.“

3. Nun müsste Deutschland die Löhne anheben, damit andere EULänder ebenfalls einen Absatzmarkt haben:

Selbst mit den härtesten Lohnsenkungen können die überschuldeten Euro-Staaten keine ausreichenden Exportüberschüsse erzielen, um damit ihre Schulden abzutragen, wenn die bisherigen Überschussländer, also vor allem Deutschland, nicht bereit sind, ihnen das Gleiche zu bieten, was die Deutschen zuvor bei ihnen hatten: den nötigen Absatzmarkt. Dazu wären jedoch erhebliche Lohnsteigerungen und vermehrte staatliche Investitionen notwendig, und Deutschland müsste ein Defizit in der innereuropäischen Leistungsbilanz hinnehmen.

Darum hat der wachsende Zorn gegen die deutsche Dominanz in der Euro-Politik einen sehr rationalen Kern. Sogar die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds und der OECD haben jüngst ausführlich dargelegt, dass die Krisenstaaten sich nicht aus ihrer Überschuldung heraussparen können.

4. Weil Deutschland von den Schulden der anderen am meisten profitierte, wäre eine stärkere Beteiligung an der Tilgung nur gerecht:

Mit einem Schuldentilgungsfonds, der den verschuldeten Ländern aus ihrer Finanzklemme hilft, wäre schon viel erreicht. Die Kapitalflucht nach Deutschland fände ein Ende, die Zinssätze würden sich angleichen, und auch die Unternehmen in den Krisenstaaten bekämen wieder Kredit zu bezahlbaren Konditionen, um zu investieren. Zwar würde die Zinslast für den deutschen Staat ein wenig steigen, weil der Fonds über gemeinsame Anleihen refinanziert werden müsste – zu einem Zinssatz, der höher läge als der in Deutschland, aber niedriger als diejenigen der Krisenländer. Aber das wäre nur recht und billig.

 

Harald Schumann ist Redakteur des Berliner „Tagesspiegel“. Er hat unter anderem das Buch „Die Globalisierungsfalle“ geschrieben