„Geboren bin ich in Köln. Aber ich habe türkisch gesprochen, bis ich in die Schule kam. Deutsch habe ich erst an der Grundschule gelernt. Meine Noten waren gut, meistens Einser und Zweier. Ich wollte unbedingt lernen, wie man Häuser baut. Wahrscheinlich wäre ich Maurer geworden, wenn es mit dem Studium nicht geklappt hätte.

An den Grundschulen und in der Sekundarstufe I sind sie noch gleichauf: die Kinder von Akademikern und von Nichtakademikern. Wir starten mit 100 Prozent.

Realschule

Auch in der Realschule war ich gut. In der neunten Klasse kam eine Berufsberaterin von der Arbeitsagentur an unsere Schule. An das Gespräch erinnere ich mich bis heute: „Ich will Architekt werden.“ – „Du weißt aber schon, dass man dafür studieren muss.“ „Okay“, habe ich gesagt, „dann werde ich studieren.“ Und sie: „Ich glaube, du bist gut bedient, wenn du über eine Ausbildung nachdenkst.“ Die hat wahrscheinlich gedacht: Wie soll das arme Migrantenkind an der Uni überleben?

An dieser Stelle gehen die Bildungsverläufe schon deutlich auseinander. Weniger als die Hälfte, nur 44 Prozent, aller Schüler aus Nichtakademikerfamilien wechselt an eine Schule, an der man Hochschulreife erlangen kann. Die Mehrheit geht in Richtung Berufsausbildung. Zum Vergleich: Bei Akademikerkindern sind es 78 Prozent.

Gesamtschule

Wieso aufs Gymnasium wechseln, wenn ich sowieso ein Einser-Abi brauche, um Architektur an meiner Wunsch-Uni, der RWTH Aachen, zu studieren? Das schaff ich doch eher auf einer Gesamtschule. Mit diesem Gedanken bin ich dann dorthin gewechselt, und ich habe mich angestrengt, weil ich wusste, dass meine Eltern Tag und Nacht geschuftet haben, um mir die Schule zu ermöglichen. 

Schon während des Abiturs habe ich dann angefangen, nebenher zu arbeiten. Als Bürohilfe bei einem Bauingenieur, der erst vor wenigen Jahren aus der Türkei gekommen war. Das war gut. Da habe ich viel gelernt. Wie füllt man einen Bauantrag aus? Oder: Was sind Abstandsflächen? So habe ich den Wortschatz gelernt, den andere vielleicht von zu Hause mitkriegen oder in entsprechenden Praktika.

In meiner Familie war ich der Erste mit Abitur. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich Architektur an der RWTH Aachen studieren will, hat mich meine Mutter sofort unterstützt. Mein Vater war zurückhaltender. Er war zum Arbeiten nach Deutschland gekommen und baute Motoren in einer Fabrik. Sein Chef hatte in Aachen studiert. Wie sollte sein kleiner Sohn das schaffen?

Hochschule

Beim Studium war das Migrant-Sein endlich kein Thema mehr. Ich hatte Professoren, die in der ganzen Welt unterwegs waren. Für die zählte nur, was du leistest, nicht, woher du kommst. Meine Professoren haben mich sehr unterstützt, weil sie gesehen haben: Da ist einer, der für die Sache brennt. Trotzdem musste ich weiter nebenher arbeiten. Ein Auslandsaufenthalt während des Studiums war nicht drin. Ich musste mir ja meine Wohnung finanzieren. Bald hatte ich einen kleinen Freundeskreis: ein Afghane, ein Türke und ich. Nicht, weil wir alle drei einen Migrationshintergrund hatten, sondern weil wir weniger wussten als die anderen. Wenn jemand aus einer Akademikerfamilie kommt, dann kennt er sich besser aus mit dem Studieren. Das ist etwas anderes, als wenn man nur seinen Traum hat.

Nur etwa acht Prozent der Kinder von Nichtakademikern absolvieren ein Masterstudium. Bei Kindern von  Akademikern ist es knapp die Hälfte.

Masterstudium

Mein Masterstudium lief gut, und ich habe noch vor der Regelstudienzeit abgeschlossen, und zwar mit „Sehr gut“. Mit einer Arbeit über die „Theodosianische Mauer“, einer jahrhundertealten Befestigungsanlage in Istanbul. 

Als wir uns für die ersten Jobs beworben haben, habe ich mit einer Kommilitonin ein Experiment gemacht: Wir haben die gleiche Bewerbung an zehn verschiedene Architekturbüros geschickt, mit den gleichen Qualifikationen, aber mit unserem eigenen Foto und Namen. Bei ihr hat man den Migrationshintergrund nicht gleich erkannt, weder am Foto noch am Namen – anders als vielleicht bei mir. Das Ergebnis: Sie hat acht Einladungen zu Bewerbungsgesprächen bekommen und ich keine einzige. Das hat mir klargemacht, dass es nicht einfach würde.

Als ein renommiertes Architekturbüro kurzfristig jemanden für einen Wettbewerb in China suchte, haben sie mich angerufen. Ich saß bis in die Nacht hinein am Schreibtisch und habe gezeichnet und Entwürfe gemacht. Irgendwann kam der Chef zu mir und sagte: „Das ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass ich einen jungen Architekten mit dem Bleistift entwerfen sehe.“ Ich habe ihm dann erzählt, dass ich früh hatte arbeiten müssen. Und dass ich das da so gelernt hatte. Ein paar Tage später hat er mich gefragt, ob ich bleiben will.

Doktorarbeit

Ich schreibe jetzt an meiner Doktorarbeit. Mit einem Stipendium von Avicenna, dem ersten muslimischen Begabtenförderungswerk. Das Wichtigste daran ist mir der Austausch mit anderen Stipendiaten. Wenn man nicht aus einem akademischen Umfeld kommt, fehlen einem oft die Kontakte.

Das Thema meiner Doktorarbeit: Hinterhofmoscheen in Deutschland, die besonders zur Zeit der Gastarbeiter entstanden sind. Das betrifft einen ganz großen Teil der etwa 2.700 Moscheen hierzulande. Leider weiß man nur sehr wenig über sie, weil es oft nur um die Konflikte geht, wenn neue Moscheen gebaut werden. Dabei sind die meisten Moscheen längst ein ganz normaler Teil Deutschlands und ein wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes.“

(Quelle für alle Zahlen: Bildungsreport 2020)

Titelbild: viavisio.de