London im 19. Jahrhundert. Die Metropole wächst rasant, immer mehr Menschen kommen und wollen ihr Auskommen in den Fabriken finden. In den Häusern der Slums quetschen sich ganze Familien in ein einziges Zimmer. Kinder schuften, statt in die Schule zu gehen, regelmäßig bricht in der Stadt die Cholera aus. Und ein deutscher Auswanderer verbringt seine Tage unter der hohen Kuppel im Lesesaal des British Museum und schreibt an einem gewaltigen Buch über dieses neue Zeitalter: 1867 schließlich erscheint der erste Band von „Das Kapital“, Karl Marx’ Hauptwerk mit über 700 Seiten.

150 Jahre später prägen nicht mehr rußige Schornsteine, sondern gläserne Bürotürme das Londoner Stadtbild. Busse und U-Bahnen haben die Fuhrwerke ersetzt. Und im British Museum gibt es kostenloses WLAN. Wenn der Ökonom mit dem Rauschebart in unser 21. Jahrhundert gebeamt würde – müsste er seine Theorien ändern? Was hätte noch Bestand von seiner Anklage gegen den Kapitalismus? Der Publizist Mathias Greffrath hat kürzlich den Sammelband „RE: Das Kapital“ (Kunstmann-Verlag) herausgegeben – und hält Marx für aktueller denn je. Er könne helfen, die Gegenwart zu verstehen, meint Greffrath. Etwa die ...

Digitalisierung

Selbstlernende Maschinen übernehmen die Produktion, sogar die Gedankenarbeit hochqualifizierter Menschen soll in Zukunft von Algorithmen und künstlicher Intelligenz erledigt werden: Glaubt man manchen Technikvisionären, stehen wir kurz vor einer neuen industriellen Revolution. Sind das nicht ganz andere Bedingungen als noch zu Marx’ Zeiten? „Wenn geistige Arbeit immer stärker automatisiert wird, liegt darin sicher ein gewaltiger Schub. Aber die Automatisierung an sich ist ein Wesensmerkmal des Kapitalismus und wäre für Marx nichts Neues“, sagt Greffrath. Marx würde laut Greffrath darauf hinweisen, dass mit der Digitalisierung nicht nur Arbeit, sondern auch Macht verschoben wird –hin zu den Besitzern der intelligenten Maschinen. Hin zu den Unternehmern, den Monopolen, den Investmentfonds und den Anlegern. Hin zum Kapital also.

Greffrath hat vor einigen Jahren ein Forschungsinstitut besucht, das einen Algorithmus für die Herstellung von Kloschüsseln programmiert hat: Das Erfahrungswissen, das Brennmeister in Generationen entwickelt haben, steckt nun in einer Steuerungsprozedur für den Industrieroboter. Nur dass es nun als Software zum Privateigentum geworden ist.

Wissensökonomie

Wo von der Digitalisierung gesprochen wird, ist schnell auch von der Wissensökonomie die Rede. Der Begriff meint, dass unser Wirtschaftssystem heute ein grundsätzlich anderes ist: eines, das nicht auf Stahl und Muskelkraft fußt, sondern auf Know-how, auf Kreativität, auf Einfallsreichtum und Expertise – der Kapitalismus ist keine Frage der Hardware mehr, sondern vor allem eine der Software. Das Wissen wird zum bestimmenden Produktionsfaktor.

Zu Marx’ Zeiten führten Ökonomen den Wohlstand einer Volkswirtschaft auf drei klassische Faktoren zurück: Boden, Kapital und Arbeit. Alle drei Produktionsfaktoren werfen wiederum ein spezifisches Einkommen ab. Der Grundeigentümer verdient die Pacht, indem er anderen sein Land überlässt – zum Beispiel dem Fabrikbesitzer. Der Fabrikbesitzer macht Profit, indem er mit seinen Maschinen Waren herstellen lässt – von den Arbeitern. Der Arbeiter erhält den Lohn für seiner Hände Werk.

Für Marx war dieses Drei-Faktoren-Modell jedoch ein typisches Beispiel für das, was er „Vulgärökonomie“ schimpfte: eine Vorstellung von Wirtschaft, die nicht hinter die Dinge schaut. Marx geht davon aus, dass der Wohlstand nicht aus drei verschiedenen Produktionsfaktoren stammt, sondern letztlich nur aus einem: der Arbeit. Der Profit des Kapitalisten ist in Wahrheit nichtbezahlte Arbeit. Die Pacht des Grundbesitzers wiederum ein Teil des Profits – und damit am Ende ebenfalls nichtbezahlte Arbeit.

Wer behauptet, die Wertschöpfung beruhe heute vor allem auf dem Wissen als einem neuen, vierten Produktionsfaktor, wäre in Marx’ Augen wohl ein Vulgärökonom. „Wissen und Arbeit sind bei Marx nicht voneinander zu trennen“, sagt Greffrath.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Wenn die Maschinen die Arbeit übernehmen, wovon lebt dann der Mensch? Eine neue Utopie macht seit einiger Zeit die Runde: Ein jeder soll künftig ein festes Salär vom Staat erhalten, egal ob er arbeitet oder nicht. 

Mancher findet am Grundeinkommen Gefallen – und meint, sich auf Marx berufen zu können, der ja vor der entfremdeten Arbeit im Kapitalismus gewarnt hatte. Der Mensch, argumentieren sie, müsste sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht länger stumpfen, fremdbestimmten Tätigkeiten hingeben, sondern könnte sich ganz seinen Herzensdingen widmen. Auch Manager aus dem Silicon Valley trommeln für das Grundeinkommen.

Aber ist es wirklich ein Zukunftskonzept in Marx’ Sinne? „Für Marx wäre das Grundeinkommen ein Menschheitsverbrechen“, glaubt Mathias Greffrath. Die versprochene Freiheit könnte sich als Trugschluss erweisen: Wahre Selbstverwirklichung kann der Mensch nach Marx nur erfahren, wenn er eine Tätigkeit ausübt, die eine Bedeutung für die Gesellschaft hat, eine echte und keine simulierte. „Wenn eine Tätigkeit gesellschaftlich sinnvoll ist, warum wird sie dann nicht wie Arbeit bezahlt?“, fragt Greffrath. Das Grundeinkommen wäre für Marx wohl eher eine Stilllegeprämie, die das Gefühl von Nutzlosigkeit eher verschärft als beendet.

Marx würde Greffrath zufolge für einen anderen Ansatz plädieren: die stumpfsinnige Arbeit abschaffen, die Arbeitszeit verkürzen und die verbleibenden anspruchsvollen und erfüllenden Tätigkeiten so umverteilen, dass jeder an ihnen teilhat.

Globalisierung

Was wir heute als Globalisierung bezeichnen, hatte Marx bereits im Blick – auch wenn der Begriff erst sehr viel später gängig wurde. Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben er und Friedrich Engels, wie der Kapitalismus nach und nach die ganze Welt umspannt. Insofern, meint Greffrath, würde Marx sich wahrscheinlich gar nicht so sehr widerlegt sehen, wenn er eine Zeitreise ins heutige Europa unternehmen würde: in dem das ausbeuterische Wirtschaftssystem, das er einst beschrieb, relativ gesittet wirkt. Zwar würde er überrascht über den weit verbreiteten Wohlstand, den Mittelstand und das Ausbleiben des Klassenkampfs sein, mit Blick auf globale Produktionsketten die alten Mechanismen der Ausbeutung jedoch wiedererkennen, so Greffrath. „Den Kapitalismus in Reinform würde Marx in den Industriestaaten so sicher nicht mehr antreffen“, sagt Greffrath. „Im Weltmaßstab gesehen ist er dafür umso lebendiger.“

Die Geschundenen, aus denen Konzerne den letzten Rest Arbeitskraft pressen, leben heute nicht mehr unbedingt in den Proletarierquartieren in London oder Berlin. Dafür schuften sie zum Beispiel in den Textilfabriken in Bangladesch oder in den Kobaltminen im Kongo.

Im 19. Jahrhundert strömten die Menschen vom Land in die Städte, nach London, nach Berlin, in die Industriehochburgen. Dass neben Kriegen auch die weltweite Ungleichheit und Armut im 21. Jahrhundert viele Menschen den Weg nach Europa antreten lassen – für Marx wäre dies eine nachvollziehbare Deutung.

Rechtspopulismus

Die Globalisierung produziert auch Verlierer in den westlichen Staaten: Unternehmen können ihre Produktion an Standorte verlagern, an denen die Lohnkosten niedriger sind. Neuerdings sind es allerdings auch die rechtspopulistischen Parteien, die mit am lautesten um die Stimmen derer werben, die ihre Jobs bedroht sehen. Warum kommt der Aufstand gegen den Kapitalismus nicht so von links, wie Marx es sich erhofft hatte?

„Ein globaler Markt, der nicht zu krassen Spaltungen führen soll, bräuchte als Korrektiv eine Art Weltregierung“, sagt Greffrath. „Weil es die aber nicht gibt, ist es durchaus rational, mehr Schutz vom Nationalstaat zu verlangen. Das ist an sich nicht reaktionär, wird aber vom Rechtspopulismus genutzt, um fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren.“ Wahrscheinlich hat auch Marx nicht richtig voraussehen können, wie schwer der Kapitalismus jenseits des Nationalstaates zu bezwingen ist.

Und sonst? Gibt es etwas, das Marx in seinem Denken erschüttern würde, wenn er mit uns heute an einem Tisch säße? „Analytisch würde ihn wahrscheinlich gar nichts überraschen“, sagt Greffrath. Aber eine Sache könnte ihn vielleicht erstaunen: wie sehr der Mensch des 21. Jahrhunderts sich mit dem Kapitalismus arrangiert hat. Wie viel stumpfsinnige Arbeit er erträgt, um sich die vermeintlichen Segnungen des Konsums leisten zu können, und sei es nur die Wahl zwischen acht verschiedenen Arten Toilettenpapier. Ist es das wert? „Marx hätte den Menschen für störrischer gehalten.“ 

Illustrationen: Eugen Schulz