Kultur

Suchen Newsletter ABO Mediathek

„Technologie kann man für jede Ideologie missbrauchen“

Welche Verantwortung haben Wissenschaftler? Das haben wir Daniel Mellem gefragt, der einen Roman über den umstrittenen Raumfahrtpionier Herrmann Oberth geschrieben hat

Hermann Oberth gilt als Pionier der Raumfahrt und gleichzeitig als einer der Ingenieure der von den Nationalsozialisten entwickelten sogenannten „Vergeltungswaffe“, kurz „V2“. 1894 in Siebenbürgen geboren, einer Region im heutigen Rumänien, träumt Oberth schon als Kind vom Bau einer Mondrakete. Nach dem Studium der Physik und einer abgelehnten Promotion arbeitet er zunächst als Lehrer und entwickelt parallel dazu mit Büchern und Vorträgen seine Vision der Raumfahrt. Im Zweiten Weltkrieg ist er daran beteiligt, die Kriegsrakete „V2“ zu entwickeln, die ab 1944 eingesetzt wird und Tausende das Leben kostet. In der Nachkriegszeit arbeitet er weiter als Raumfahrtingenieur und -berater und darf schließlich 1969 auf der Ehrentribüne im Kennedy Space Center dabei zusehen, wie die „Apollo 11“ startet: die erste bemannte Raumfahrtmission mit einer Mondlandung. Der Physiker Daniel Mellem hat über Oberths Leben seinen Debütroman „Die Erfindung des Countdowns“ geschrieben.

fluter.de: Du hast 2016 in Physik promoviert und danach das Deutsche Literaturinstitut Leipzig besucht. Wann bist du zum ersten Mal auf Hermann Oberth gestoßen?

Daniel Mellem: Ich kannte Oberth lange nicht. Das klingt wahrscheinlich überraschend, weil ich Physik studiert habe. Vor fünf Jahren bin ich dann über den Film „Frau im Mond“ von Fritz Lang auf ihn gestoßen und war sofort fasziniert von seinem Leben, das voller Sehnsüchte und Verfehlungen steckt. Oberth war ein Getriebener, ein Eigenbrötler, ein prähistorischer Nerd – und eine streitbare Figur der Zeitgeschichte.

Der Regisseur Fritz Lang hatte Oberth 1928 als Berater für die wissenschaftliche Richtigkeit der Raumfahrtszenen engagiert, außerdem sollte er für Werbezwecke zur Filmpremiere eine Rakete bauen, was aber misslang. Nur einer von vielen Momenten, in denen der Traum des Physikers vor seinen Augen platzt. Warum hast du dem Scheitern so viel Raum gegeben?

Oberth hat ein sehr unstetes Leben geführt, ist ständig umgezogen, hat seiner Vision von der Raumfahrt alles andere untergeordnet. Darüber hat er unter anderem auch seinen Job als Lehrer in Siebenbürgen verloren, weil er nach Geldgebern in Deutschland gesucht hat. Das Scheitern ist zentral für sein Leben. Er ist gescheitert, weil die Umstände ihn haben scheitern lassen – aber eben auch an sich selbst. Für mich ist das Faszinierende an dieser Figur, dass Oberth sich trotz vieler Enttäuschungen nicht von seinem großen Traum abhalten ließ. Und am Ende ein Utopist war, der die Erfüllung seiner Utopie – die Mondlandung – doch noch miterleben durfte.

„Ich denke, die Rakete war aus seiner Sicht eine Möglichkeit, nie wieder einen solchen Krieg führen zu müssen“ 

Vorher tötete die von ihm mitkonstruierte „V2“-Rakete im Zweiten Weltkrieg zwischen 8.000 und 12.000 Zivilisten, 20.000 Zwangsarbeiter kamen beim Bau unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben. Hat Oberth seine Verantwortung als Wissenschaftler der Erfüllung seines Lebenstraums untergeordnet?

Um sein Handeln zu verstehen, hilft es, glaube ich, sich seine Biografie anzuschauen: Oberth hatte im Ersten Weltkrieg seinen Bruder verloren. Ich denke, die Rakete war aus seiner Sicht eine Möglichkeit, nie wieder einen solchen Krieg führen zu müssen – weil sie den Feind abschreckt. Wenn man ihn selbst damals gefragt hätte, hätte er vermutlich geantwortet: Einer Rakete würden weniger Menschen zum Opfer fallen als durch den Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg. Das ist eine fatale Denkweise, aber das war seine Logik – nachzulesen ist das in seinem Werk „Wege zur Raumschifffahrt“ von 1929.

Diese fast schon kindlich-naive Vision kollidiert erheblich mit folgendem Satz, den Oberth in einer Rede 1962 gesagt haben soll: „Ich hatte gehofft, eine Raketenwaffe zu finden, die den Schandvertrag von Versailles hätte zerschlagen können. Das ist mir nicht gelungen.“

Mit solchen Zitaten umzugehen war eine Herausforderung. Natürlich habe ich mich gefragt: Kann ich eine Aussage vom alten Oberth dem jungen Oberth in Rechnung stellen? Eine abschließende Antwort konnte ich nicht finden. Auf jeden Fall aber verdeutlichen Zitate wie dieses für mich, wie sehr die Rakete als Waffe in Oberths Gedanken eine Rolle gespielt hat – er wollte den Krieg zwar verhindern, aber eben in dem Sinne, dass die Deutschen den Frieden erzwingen können. Als ich begann, den Roman zu schreiben, wünschte ich mir, dass Oberth ein idealtypischer Wissenschaftler ist. Diese Sicht musste ich aufgeben, weil Wissenschaft nun mal von Menschen gemacht wird, die sich auch in politischen Kontexten bewegen. Es ist ein Irrglaube, dass Technologie immer etwas Progressives in sich trägt. Technologie kann man für jede Ideologie missbrauchen – auch für eine menschenverachtende wie die im Nationalsozialismus. Das zeigt das Leben von Hermann Oberth.

Als Rumäniendeutscher macht „Hermann“, wie du Oberth in deinem Roman nennst, permanent Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Trotzdem nimmt er Kontakt zu Hitler auf und arbeitet für den SS-Sturmbannführer Wernher von Braun. Wie lässt sich das erklären?

Oberth war ein Mensch voller Widersprüche. Die Rakete war etwas, worüber er sich profilieren und sich als nationalistisch denkender „Volksdeutscher“ zeigen konnte. Ich habe mir seine Verstrickungen im Nationalsozialismus erst nach und nach erschlossen und musste mit Schrecken feststellen, dass er mit dem nationalsozialistischen Deutschland sympathisiert hat. Wegweisend war eine Publikation des kanadischen Historikers Michael J. Neufeld, in der beschrieben wird, dass Oberth unter anderem einen Brief an Hitler persönlich geschrieben habe, um für die Waffe zu werben. So gesehen war er einer, der von der Zukunft träumte und selbst ganz verhaftet war in seiner nationalsozialistischen Gegenwart.

Gegen Ende des Romans schilderst du einen Ehestreit, bei dem Oberths Frau Tilla ihn für eine rechtsextreme Publikation in einer Broschüre kritisiert. Im echten Leben trat Oberth 1965 in die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ein und schrieb den Text „Der Mut zur Wahrheit. Mein Weg zur NPD“. War er ein Nazi?

Ohne die Kenntnisse biografischer Details ist es verführerisch, Oberths NPD-Mitgliedschaft als Altersverirrung zu deuten. Ich glaube, auch diesbezüglich spielt die nationale Identität wieder eine Rolle. Die NPD war eine Partei, die ihn, der aus Siebenbürgen kam, als „ganzen“ Deutschen anerkannt und sogar als Galionsfigur genutzt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass ihm das geschmeichelt hat. Auch war Oberth vom Naturell her jemand, der von einer Überzeugung nur schwer lassen konnte. Das merkt man auch in Bezug auf seine politischen Positionen.

„Ist das jetzt Opportunismus, weil er zu der Zeit unbedingt nach Deutschland möchte, oder ist es seine ideologische Überzeugung?“

Im Nachwort schreibst du, dass sich Oberth auch antisemitisch geäußert habe. Warum sparst du dieses Thema in der Erzählung aus?

Ein schwieriges Thema, das mich sehr beschäftigt hat. Es gab mal ein allgemeines Gutachten eines Historikers zu Oberth, in dem es heißt, er sei „trotz vermutlicher NS-Sympathien kaum belastet“. Tatsächlich war Oberth nach meiner Recherche wohl nicht in der NSDAP, aber laut eigener Aussage doch immerhin Mitglied der nationalsozialistischen Selbsthilfe in Rumänien. Antisemitische Äußerungen habe ich zum Beispiel in der Fußnote eines Aufsatzes von 1932 gefunden – und in Oberths Briefen aus dieser Zeit. Man kann sich fragen: Ist das jetzt Opportunismus, weil er zu der Zeit unbedingt nach Deutschland möchte, oder ist es tatsächlich seine ideologische Überzeugung? Eine Frage, die ich als Schriftsteller nicht beantworten kann.

Entziehst du dich damit nicht der eigenen Verantwortung für deinen Protagonisten?

Als Autor sehe ich mich dreifach in der Verantwortung. Zum einen wollte ich die historische Person gerecht behandeln – das habe ich gespürt, als ich vor Oberths Grab stand. Ich wollte nicht urteilen, wo ich nicht urteilen kann. Zweitens trage ich auch eine Verantwortung gegenüber seiner Lebenswelt, in der seine Verfehlungen Schreckliches nach sich gezogen haben. Und drittens bin ich verantwortlich für die literarische Erzählung, die in sich schlüssig sein muss. Auch nachdem ich den Text abgeschlossen habe, stelle ich mir noch viele Fragen.

mellem.png

Daniel Mellem (Foto: Bogenberger Autorenfotos)
(Foto: Bogenberger Autorenfotos)

Daniel Mellem, Jahrgang 1987, lebt in Hamburg. Sein Roman „Die Erfindung des Countdowns“ ist bei dtv erschienen und kostet 23 Euro. 

Titelbild: Karoly Forgacs/ullstein bild via Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.