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Trocken und heiter

Islands Jugend hatte ein Drogenproblem – bis sie lernte, auch anders high zu werden. Die Geschichte eines Entzugs

Island, Teenager

Bjarni ist 18 und weiß mehr über Ernährung als viele Erwachsene. Sport und Ernährung sind seine Leidenschaft. Bjarni ist ziemlich durchtrainiert. Das Wochenende naht, und er steht mit gepackter Sporttasche zwischen ein paar Leuten auf einer Feier im Rathaus von Reykjavík. „Ist doch irre, dass ihr jungen Leute so sportbesessen seid“, raunen zwei Ältere mit schlechten Zähnen. Das hat auch damit zu tun, dass in ihrer Jugend viele mehr kifften und tranken, als Sport zu machen.

Wäre Bjarni zwei Dekaden früher aufgewachsen, wäre er vermutlich am Wochenende oft besoffen gewesen. Jugendliche am Polarkreis sind heute viel selbstbewusster, was auch mit der „Lebenswandelschule“ zu tun hat. Dieses Lernkonzept, das ein gesundes Leben ohne Drogen lehren will, beginnt für alle isländischen Schüler in der achten Klasse. Davor liegt die Zeit des großen Abenteuers. Viele Eltern lassen ihre Kinder ganz in Ruhe ihre eigenen Erfahrungen machen, sie intervenieren weder bei Stürzen noch bei Raufereien. Eine Kindheit in Island bedeutet oft: das Recht auf die eigene Wildheit. Das Problem war bloß lange Zeit, dass die Wildheit mit Alkohol und Drogen ausgelebt wurde.

20 Jahre lang war Island soziales Versuchslabor

Bis vor 25 Jahren war das Eiland im Nordatlantik ein vollkommen abgeschiedener Ort, an dem die meisten Jugendlichen vor allem eines wollten: weg von hier. Und wenn sie nicht wegkamen, flüchteten sie sich in den Rausch. Heute ist Island längst kein trister Ort mehr. Das Leben in den Bars und Kneipen brummt, die nur wenige Flugstunden sowohl von den meisten Metropolen Europas als auch der amerikanischen Ostküste entfernt liegen. Island hat eines der schnellsten Datennetze der Welt. Weg von hier wollen nicht mehr viele. Das liegt auch an einem Sozialexperiment, das vor über 20 Jahren begann.

Damals war fast die Hälfte aller isländischen Teenager einmal im Monat betrunken. Heute holt sich nur noch jeder vierzehnte Jugendliche diesen Kick pro Monat. Ebenfalls stark reduzierte sich der Konsum von Nikotin und Cannabis. Von ehemals fast einem Viertel der Jugendlichen rauchen heute nur noch drei Prozent.

Island

Island, Teenager

Sport ist auch eine Lösung: Die Jugendlichen sollten lernen, wie sie sich ohne Drogen in Rausch versetzen können

Island

Island, Teenager

2018 qualifizierte sich die isländische Fußballnationalmannschaft sogar für die Weltmeisterschaft – ein Verdienst des Sozialexperiments?

Mit dem Plan „Jugend in Island“ wirkte ab 1999 eine konzertierte Bewegung bis in Jugendgruppen, Sportvereine und Schulen hinein. Sie nannten es „Lebenswandelschule“. Hier lernten die Jugendlichen im Sportverein, was es bedeutet, den Rausch durch Drogen mit dem Adrenalinkick beim Sprinten zu ersetzen, oder in den Musikschulen, wie viel Spaß es macht, ein Instrument zu spielen. Parallel dazu erfährt eine ganze Generation im Schulunterricht, was in ihren Gehirnen passiert, wenn der Körper nach Rausch schreit.

Sport treiben, Musik machen und Zeit mit den Eltern verbringen

„Drogensucht ist eine Verhaltenssucht“, sagte der Psychologe Harvey Milkman, der an der Universität von Reykjavík lehrte, schon vor 20 Jahren. Damals galt er mit seinen Thesen als Außenseiter, heute weiß man, dass erhöhter Zuckerkonsum oder Kaufsucht ähnliche Highzustände im Hirn erzeugen wie Drogen oder zu viel Alkohol. Der Kick, den die jungen Leute bei ihrer allerersten Drogenerfahrung gemacht hatten, wurde gezielt auf Sport und Kreativität umgelenkt. Sie erwarben in Schule und Sportverein ein Wissen, wie man auch ohne den Griff zur Flasche oder Joint in Rausch kommt.

Die isländischen WissenschaftlerInnen entwickelten eine einzigartige Mischung aus Freiheit und Grenzen, wo sie vorher mit Verboten gescheitert waren: „Welchen Sport würdest du gerne ausüben?“, „Wer möchtest du einmal sein?“ waren Fragen, die jede/r Jugendliche nun hörte.

Doch die „Lebenswandelschule“ zielte nicht nur auf die Jugendlichen. Die ForscherInnen erkannten schnell, wo ein wesentlicher Grund für den hohen Drogenkonsum lag: Die Jugendlichen verbrachten kaum Zeit mit ihren Eltern. Diese sollten ihre Kinder wieder öfter sehen, durften ihnen keinen Alkohol und kein Nikotin mehr zugänglich machen – und mussten dafür sorgen, dass 13- bis 16-Jährige ab 22 Uhr nicht mehr auf die Straße gingen. Im Sommer, wenn die Sonne am Polarkreis nicht mehr untergeht, war ihre Zeit bis Mitternacht erweitert. Heute verbringen isländische Mütter und Väter wochentags doppelt so viel Zeit mit ihren Kindern wie vor dem Start der „Lebenswandelschule.“

In keinem anderen Land leben Teenager so drogenfrei

Für den Forscher Harvey Milkman wurde die „Lebenswandelschule“ zu einem einzigartigen Versuchslabor, zu einem Traum seines Forscherlebens: Denn die Bedingungen in einer Gesellschaft wie der isländischen waren paradiesisch. Heute leben gut 360.000 Menschen im Land, das ist eine Communitygröße, in der sich gesellschaftlicher Wandel leicht bewerkstelligen und erforschen lässt. 

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Die jährlichen Befragungen des damals gegründeten Instituts zeigen, wie viel glücklicher Jugendliche in Island heute sind. In keinem anderen Land der Welt leben Teenager so drogenfrei wie in und um Reykjavík. Das „Isländische Modell“ entwickelte sich zu einem pädagogischen Exportschlager für Kommunen in aller Welt und wird inzwischen in 21 Ländern in verschiedenen Gemeinden praktiziert, darunter in Rumänien, auf Malta, den Faröern und in Litauen. 

Wohin das Programm auch führte, zeigt das „Versuchslabor“ Island nun der ganzen Welt: Das isländische Fußballwunder begann mit der Frühförderung unerkannter Sporttalente der „Lebenswandelschule“ und endete in der Weltmeisterschaft 2018, für die sich die Nationalmannschaft erstmals qualifiziert hatte. Und dass eine isländische Komponistin in diesem Jahr den Oscar für den besten Soundtrack des Jahres erhielt – auch diese Geschichte nahm ihren Anfang in einem kleinen Vorort von Reykjavík, in dem ein Mädchen sich ein Cello aussuchte, ohne große Kosten dabei zu verursachen. 

„Mein Vater hat mir davon erzählt, dass die jungen Leute früher immer ziemlich viel soffen“, sagt Bjarni, für den Sport alles ist. Eine Frage können seine Eltern ihm nicht erklären: „Auf was konntet ihr damals denn stolz sein, wenn ihr gesoffen habt?“

Fotos: Dave Imms

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.