Katalanische Parteien, die eine Unabhängigkeit von Spanien fordern, bekamen im Dezember erneut die absolute Mehrheit im Regionalparlament. In Belgien mehren sich Stimmen, die mehr Eigenständigkeit für die prosperierende Region Flandern um Antwerpen fordern, in Großbritannien gilt dasselbe für das erdölreiche Schottland, in Italien für das wirtschaftlich starke Venetien.

Für die einen sind die Aktivisten zerstörerische Separatisten, für die anderen nationale Unabhängigkeitskämpfer

Und in Bayern legte CSU-Querdenker und Journalist Wilfried Scharnagl vor fünf Jahren ein Buch mit dem provokanten Titel „Bayern kann es auch allein“ vor. Stets steht das Streben nach Eigenständigkeit im Widerspruch zur Verfassung: Für die einen sind die Aktivisten zerstörerische Separatisten, für die anderen nationale Unabhängigkeitskämpfer. Doch egal, wie man die Stimmen nach mehr Unabhängigkeit einordnet – sie scheinen lauter geworden zu sein. 

„Die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat zu einer Legitimationskrise des Nationalstaats geführt“, sagt Philipp Ther. Der Historiker von der Universität Wien hat Europas Regionalismen erforscht. Seine Bilanz: Krisen zerren am Zentralstaat. In wirtschaftlich schweren Zeiten wachse die Lust, sich vom Zentrum loszusagen. So erfuhr zum Beispiel Kataloniens Regionalismus um 1900 einen ersten Aufschwung: Nach dem verlorenen Krieg gegen die USA musste sich Spanien 1898 von seinen letzten bedeutenden Kolonien in Übersee, etwa Kuba, Puerto Rico und Guam, trennen. Die Hafenstadt Barcelona litt besonders unter dem wegbrechenden Handel – und strebte weg von der kriselnden Monarchie in Madrid. Heute sind es die Nachwirkungen der Eurokrise, die Spanien plagen.

Ein Europa der Regionen? So könnte es aussehen

„Der alte Nationalstaat als politischer Körper ist ausgehöhlt“, sagt Ulrike Guérot. Die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin lehrt an der Donau-Universität Krems in Österreich und gilt als „Europa-Aktivistin“. 2013 verfasste sie mit dem Schriftsteller Robert Menasse ein Manifest für die Begründung einer europäischen Republik, die ihrer Meinung nach schon in wenigen Jahrzenten kommt. „Ich halte den 9. Mai 2045 für realistisch“, sagte sie der „Zeit“. 2016 legte Guérot mit ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“, Untertitel: „Eine politische Utopie“, ein engagiertes Plädoyer für ein Europa der Regionen nach. Ihr wichtigstes Argument: „Die Region ist der natürliche politische Organisationsrahmen.“ 

Die Analyse der europäischen Verhältnisse in Guérots Buch geht so: Der Nationalstaat steckt in der Krise. Globalisierung (und EU) knabbern von oben an seiner Souveränität. Von unten fordert die Zivilgesellschaft mehr Mitsprache und Transparenz. Das Internet bietet neue Beteiligungswege, die Bindekraft der Parteien sinkt. Nur die Demokratie setze weiter auf Methoden aus dem 19. Jahrhundert: Repräsentation und Nationalstaat. „Die Frage ist: Wie wollen wir den Modernisierungsschub überstehen – nur durch nationalstaatliche Regression oder durch etwas Neues?“, fragt Guérot provokant. Was sie an der Diskussion um Katalonien störe, sei die völlige Verengung einer Diskussion ohne mögliche Alternativen: „Entweder unabhängig und raus aus der EU oder drinnen in der EU und in Spaniens Zentralstaat.“

In Deutschland könnte sich etwa eine Region Sachsen rund um die Zentren Dresden und Leipzig konstituieren

Sie plädiert für einen dritten Weg: ein Europa der Regionen. Guérot verweist auf europäische Landkarten – mit den Stadtrepubliken aus dem Mittelalter und von heute. Was die kleingliedrige Einteilung betrifft, sind die Abbildungen fast deckungsgleich. 50 bis 60 Regionen sind darauf zu sehen mit je fünf bis zehn Millionen Einwohnern. Sie sind im Verlauf der Geschichte rund um urbane Wirtschaftszentren wie Barcelona, Mailand oder Venedig gewachsen und ökonomisch ungefähr gleich stark. In Deutschland könnte sich etwa eine Region Sachsen rund um die Zentren Dresden und Leipzig konstituieren.

Eine EU-50-plus als europäische Republik

In einer EU-50-plus, in der alle gleich mächtig sind, so die Unterstützer der Idee, gäbe es keine Großen mehr, die die Richtung vorgeben wie zuletzt Deutschland in der Eurokrise. Zwischen Riesen haben Kleine oft nicht viel zu melden: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich die EU nach dem Brexit über weite Strecken wie bereits mehrmals in ihrer Geschichte auf der Achse Paris und Berlin ausrichten könnte. Eine EU-50-plus böte immer neue Mehrheiten entlang von Sachfragen und somit keine dauerhaften Niederlagen Einzelner, sondern wechselnde Gewinner. Ein „Paradigmenwechsel von nationalem Interesse zu gesellschaftlichen Präferenzen“, sagt Guérot.

Ihr geht es in kritischen Zeiten für Demokratie und Europäische Union um mehr Mitbestimmung, am besten über Selbstverwaltung auf regionaler Ebene. „Die Politikräume müssen enthomogenisiert, regionalisiert und politisiert werden“, fordert Guérot. Sprich: Der Nationalstaat gibt Zuständigkeiten nach oben (an die EU) und nach unten (an die Regionen) ab. Von „Glokalisierung“ – ein Hybrid aus den Wörtern Globalisierung und Lokalisierung  – spricht Bart De Wever , Vorsitzender der flämischen N-VA und Bürgermeister Antwerpens. Die Aufgabe der EU könnte es zum Beispiel sein, Verteidigung und Außenvertretung zu übernehmen. Angelegenheiten wie Steuer- oder Schulpolitik – in Bildungseinrichtungen etwa sollte in der jeweiligen Regionalsprache gelehrt werden dürfen – könnten die Regionen selbstständig regeln. 

Doch wie soll das gehen, eine EU-50-plus, wo schon die heutigen 28 Staaten keinen Konsens finden? Guérots Vorschlag lautet: mit einer europäischen Republik. An der Spitze steht ein direkt gewählter EU-Präsident mit seinem Kabinett – vergleichbar mit der heutigen EU-Kommission. Die Europäische Abgeordnetenkammer (das heutige EU-Parlament) würde durch eine zweite Kammer, den „Europäischen Senat“, ergänzt. In diesen entsendet jede Region je zwei Senatoren. Klingt verwegen? „Funktioniert in den USA doch auch“, sagt Guérot mit Blick auf das Zwei-Kammer-System der Vereinigten Staaten knapp. 

Macht die EU eine „Glokalisierung“ möglich?

Bisher ist diese Idee wohlgemerkt nur eine Zukunftsvision einiger weniger. Gegnerinnen und Gegner warnen zum Beispiel vor Zersplitterung, Instabilität und einem enormen Verwaltungs- und Abstimmungsaufwand. Zumindest eine der Voraussetzungen für eine potenzielle Umsetzung ist aber grundsätzlich gegeben, und zwar durch die Gemeinschaft selbst. „Die EU liefert kleinen Nationalstaaten mit Handelsabkommen und Verteidigungsbündnissen erst den organisatorischen Rahmen, damit sie in einer globalisierten Welt überleben können“, so der Historiker Philipp Ther. Im Jahr 1992 schafften es Tschechien und die Slowakei, sich friedlich zu trennen. Beide Länder haben heute besonders niedrige Arbeitslosenzahlen – Tschechien führt die Liste an, die Slowakei liegt immerhin unter dem EU-Durchschnitt  – und zeigen, dass auch kleine Staaten erfolgreich sein können, wenn sie vom Know-how und der Unterstützung der EU profitieren. 

Schottland ist reich an Erdöl, rund um Antwerpens Hafen in Flandern sitzen Belgiens Exportindustrien

Natürlich gehe es bei den Autonomiebestrebungen auch um Verteilungsfragen, räumt Ulrike Guérot ein. Schottland ist reich an Erdöl, rund um Antwerpens Hafen in Flandern sitzen Belgiens Exportindustrien, und auch Katalonien mag seinen Reichtum in der Krise ungern mit dem landwirtschaftlich geprägten Andalusien teilen. Die reiche spanische Region führt laut Schätzungen jährlich rund 16 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben an die Zentralregierung ab. „Spanien beklaut uns“, lautet daher einer der Schlachtrufe der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter.

„Eine solche Rhetorik teilt Menschen ein zwischen ‚Uns‘ und ‚Denen‘. Du gehörst zur einen Gruppe oder zur anderen“, warnt der britische Kolumnist Simon Kuper. Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović erinnert in diesem Zusammenhang an den schmerzlichen Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren und mahnt zu einem Verhalten, das auch abseits von Unabhängigkeitsbestrebungen nicht verkehrt ist: „Seid rücksichtsvoll. Denkt vom Gegenüber als Menschen. Und belegt sie nicht mit Vorurteilen.“ 

Peter Riesbeck arbeitete von 2012 bis 2017 als Korrespondent in Europas „einzigartig interkulturellem Lernort Brüssel“, wie er es nennt, unter anderem für „Cicero“, „NZZ am Sonntag“ und die „Kleine Zeitung“ aus Graz

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Titelbild: Gunnar Knechtel/laif