Wir möchten uns in Zukunft mit Menschen in der ganzen Welt austauschen, mit ihnen politisch diskutieren, streiten, debattieren, und zwar per Brief beziehungsweise per E-Mail. Es soll darum gehen, Argumente nachvollziehbar zu machen und unsere oft eurozentrische Perspektive zu erweitern und zu hinterfragen. Wie denken die Menschen in Nordafrika über die Situation der Flüchtlinge hier? Was sagt ein Mexikaner zum Drogenkrieg in seinem Land oder ein israelischer Soldat und ein palästinensischer Schüler zum Nahost-Konflikt? Dabei ist uns wichtig, mit allen Berufsgruppen und Schichten der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Den Anfang macht Agomo Atambire, unser ehemaliger Praktikant aus Ghana, der sich in einer Mail an uns als Anhänger der Atomkraft outete – eine Haltung, die bei uns mittlerweile ja eher selten ist. Hier lest ihr seinen Brief an uns – und bald unsere Antwort darauf.

Liebes fluter-Team,

seit diesem Jahr haben wir in Ghana eine neue Regierung, und ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass es vorangeht. Eines unserer größten Probleme sind die täglichen Stromausfälle. Oft geht am Abend das Licht aus, und es können schon mal 24 Stunden vergehen, bis es wieder da ist. Das heißt: keine Musik mehr in den Bars, kein kaltes Bier, kein Buch vor dem Einschlafen. Es geht aber gar nicht so sehr um den fehlenden Komfort, sondern vor allem darum, dass unsere Wirtschaft ohne Elektrizität nicht vorankommt. Die Wasserturbinen am Voltasee sind zu schwach, um noch mehr Strom zu liefern, außerdem sind wir durch alte Verträge verpflichtet, Strom an unsere Nachbarländer zu liefern.

Deshalb hoffe ich, dass der neue Präsident Akufo-Addo seinen Plan umsetzt, ein Atomkraftwerk zu bauen. Euer Stöhnen kann ich praktisch bis Accra hören. Während meines Praktikums bei euch habe ich ja gemerkt, dass die meisten Menschen in Deutschland die Atomkraft kritisch sehen und den Ausstieg begrüßen. Solche Bedenken gibt es auch hier, aber der Strom wäre für uns wie Sauerstoff – überlebenswichtig.

In den letzten Jahren hat der Regen so stark abgenommen, dass sich der Bau weiterer Wasserkraftwerke kaum lohnt. Schuld ist der Klimawandel, den vor allem Industrienationen wie Deutschland verursachen. Mir scheint Atomkraft nicht die schlechteste Alternative zu sein, wenigstens produziert man kein weiteres CO2 wie ihr mit euren Kohlekraftwerken. Mich würde auch interessieren, wie viele Menschen in Deutschland gegen die Atomkraft wären, wenn ihre Kinder im Schein von Kerzen Hausaufgaben machen müssten. Was meint ihr?

Wir können es uns schlicht nicht leisten, gegen Atomkraft zu sein. Laut Weltbank haben 1,1 Milliarden Menschen weltweit keinen Strom, in Ghana sind es 27 Prozent der Bevölkerung.

Kann ja sein, dass es in alten AKW Störfälle gibt. Ich bin der Überzeugung, dass heutige Kernkraftwerke viel sicherer gebaut werden könnten, weil man um die Schwachstellen weiß: dickere Reaktorhüllen, Software, die vor Hackern geschützt ist, Standorte, die absolut erdbebensicher sind. Man ist ja heute nicht gegen Autos, weil sie in den 50er-Jahren noch unsicher waren. Es gibt heute Konzepte, den radioaktiven Müll in tiefe Bohrlöcher einzulagern – bis zu fünf Kilometer unter der Erde. In North Dakota in den USA gibt es erste Versuche dazu.

Und, ja, Atomtechnik ist teuer. Aber denkt mal darüber nach, dass unsere Unternehmen einer Studie von 2015 zufolge jedes Jahr fast 700 Millionen Dollar allein deshalb verlieren, weil der Strom ausfällt. Wir sollten lieber ein gewisses Risiko eingehen, als die Menschen an der Entwicklung ihres Landes zu hindern.

Euer Agomo

 

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Agomo

Dass Agomo sich für unsere Snackbox und den Kicker begeistern konnte, war während seines Redaktionspraktikums im Sommer 2016 deutlich zu erkennen. Seine Atom-Euphorie hat er nicht so offen gezeigt



 

„Mich würde auch interessieren, wie viele Menschen in Deutschland gegen die Atomkraft wären, wenn ihre Kinder im Schein von Kerzen Hausaufgaben machen müssten“

Lieber Oliver,

vielleicht sollte ich wirklich dankbar dafür sein, dass Ghana bislang atomfrei ist, aber sollte ich nicht noch dankbarer sein, wenn die permanenten Stromausfälle irgendwann mal der Vergangenheit angehören, auch wenn das bedeutet, in die Atomenergie einzusteigen?

Politische Stabilität, die in Afrika leider allzu selten ist, ist auch eine Frage der Versorgungssicherheit. Ein Land, in dem die Menschen unzufrieden und wütend sind, ist schwerer zu regieren und immer in Gefahr, dass sich Bürger radikalisieren. Was ist teurer: das Risiko der Kosten beim Bau eines AKW oder das Risiko von gesellschaftlichen Verwerfungen? Ich frage das auch, weil die Stromfrage in Ghana ungeheuer wichtig ist. Sie entscheidet über das Schicksal von Regierungen. Und wir sehen in vielen Nachbarländern, wozu eine veraltete oder überlastete Infrastruktur führen kann.
Ein anderer Aspekt ist die Frage der Alternativen. Schon jetzt werden fossile Energieträger im großen Maßstab verbraucht. Die ganzen Diesel- und Benzingeneratoren verpesten die Luft in den Städten und machen die Menschen krank. Sollen wir in Zukunft noch mehr Öl verfeuern?

Wir haben jahrelang mit Solarenergie herumexperimentiert, aber die Wahrheit ist, dass all diese dezentralen Solarzellen kein Ersatz für eine sichere, zentrale Energieversorgung sind. Die meisten Haushalte können sich diese Module auch gar nicht leisten. Die Atomenergie würde aber nicht nur diese Haushalte günstig und ohne Schwankungen beliefern, sondern auch die Industrie.

Es stimmt: Benutzte Brennstäbe sind gefährlich, aber ich bin der Überzeugung, dass verantwortlich damit umgegangen werden kann. In Deutschland habt ihr doch gerade ein neues Gesetz zur Endlagersuche verabschiedet, mit dem bürgernah und transparent nach einem Ort für den Abfall gesucht wird. Gefährlicher aber als jeder radioaktive Abfall ist eine verzweifelte und wütende Bevölkerung. Wütend darüber, dass Babys sterben, weil die Brutkästen im Krankenhaus nicht funktionieren. Oder sie ihre Familien nicht versorgen können, weil die Geschäfte ohne Strom nicht laufen.

Kann schon sein, dass es Menschen gibt, die es nicht so schlimm finden, bei Kerzenlicht zu lesen, aber sollen wir wieder die Wäsche im Fluss waschen? Wie machen wir das Wasser heiß? An einem Lagerfeuer? Wir haben Gott sei Dank eine wachsende Mittelschicht, deren Bedürfnisse größer werden. Wir benötigen also eine Politik, die darauf reagiert, wenn wir das Wachstum nicht abwürgen wollen.

Es ist ja auch nicht so, dass wir uns nicht um die Umwelt sorgen. Das ist kein Privileg reicher Länder. Mir zum Beispiel liegt die Umwelt sehr am Herzen, deswegen bin ich auch gegen den weiteren Ausstoß von CO2. Jeder Mensch, der sich wegen des Klimawandels Sorgen macht, kann nicht ernsthaft von uns erwarten, dass wir die Atomenergie nicht in unseren Energiemix miteinbeziehen. Jedenfalls nicht bis zum Ende dieses Jahrhunderts.

Alles Liebe
Agomo

 

„Was ist teurer: das Risiko der Kosten beim Bau eines AKW oder das Risiko von gesellschaftlichen Verwerfungen?“

Titelbild: VISUM