Doping ist in der Gesellschaft längst anerkannt, glaubt unsere Autorin. Möglich gemacht haben das die Profisportler. 

Sport und Religion, heißt es oft, haben viel gemeinsam. Meist geht es im Sport um Vergötterung der Helden, die in Stadien, in Schwimmhallen und auf Landstraßen zeigen, wie man schafft, was man sich erträumt. Viel seltener geht es um Sünden, die fast immer von Doping handeln. Dabei sind die Dramen, die auf die Sünden folgen, manchmal fesselnder als Wettkämpfe: Marion Jones, die Sprintkönigin der Olympischen Spiele von Sydney, weinte, als sie wegen Meineids ins Gefängnis musste. Erik Zabel weinte auch, obwohl er angeblich bloß zwei Wochen dopte und gleich nach seiner Beichte weiterradelte. Jörg Jaksche sündigte, fand zum rebellischsten Akt, zur Wahrheit über den Radsport, und kämpfte dann vergeblich um Wiederaufnahme in denselben. Fast vergessen, das alles. Vielleicht liegt es daran, dass oft aufhört zu denken, wer glauben will. 

Doping ist verboten. Deshalb lügen die Muskelgötter, bis sie fallen – über vergiftetes Blut, verseuchten Urin und Spritzenbestecke. Es geht unappetitlich zu in den Hinterzimmern der Helden. Doch der Sport sprintet weiter auf seinem Höllentrip zum gol-denen Schuss. Wieso eigentlich?

„Was ist für Sie Doping?“, fragte Reinhold Beckmann im Februar 2007 Jan Ullrich. Das Radidol hatte gerade seinen Rücktritt erklärt, bald würde herauskommen, dass sein Blut beim spanischen Dopingdoktor Fuentes lagerte. „Was ist für mich Doping?“, fragte Ullrich zurück. „Doping ist für mich, wenn man ...“ Dann verstummte er. Für genau 33 Sekunden. Er schüttelte ein paarmal kurz den Kopf, sah nach oben, lächelte ratlos, sah nach unten. Nach 33 Sekunden sagte Jan Ullrich: „Ich glaube, dass der Zuschauer da draußen das verstanden hat, was ich sagen wollte.“ Typisch Ulle, das Publikum lachte. Auf Youtube kommen die 33 Sekunden auf mehr Klicks als sämtliche Videos von der Tour de France, die Ullrich 1997 gewann.

Jan Ullrich hätte berichten können. Wie Eigenbluttransfusionen oder EPO-Spritzen die Ausdauer steigern, wie Steroide und Wachstumshormone die Muskeln aufpumpen, wie Insulin die Energiereserven verzehnfacht, wie Amphetamine die eigenen Grenzen vergessen lassen. Wie man ein Dopingjunkie wird. Er hätte vielleicht auch über Körperverletzung berichten können, als einziger Nachwuchsstar des Stasi-Clubs SC Dynamo Berlin, gerichtsfest mit den Staatsdopern der DDR, von denen so viele im Sport weitermachten, über Radprofis, die heutzutage im Schlaf sterben. Er hätte berichten können über machtlose Kontrolleure, über Dopingärzte der Freiburger Uniklinik, vielleicht auch über Schwarzmarkt-Dealer, die mit Dopingmitteln mehr verdienen als mit herkömmlichen Drogen. Aber Ullrich wollte nicht. Oder er konnte nicht sagen, was das ist, Doping.

Zumindest von offizieller Seite aus soll es kein Betrug gewesen sein. Von diesem Vorwurf sprachen Staatsanwälte Jan Ullrich erst im April dieses Jahres frei. Seien wir ehrlich, hieß das: Jeder weiß, dass alle dopen – und wenn es sich so verhält, dann betrügt auch keiner.

Doping bedient und meint ein System von Profiteuren, die miteinander verfilzt sind und mitspielen im globalen Pharmasport: Sportfunktionäre, Trainer, Ärzte, die Erfolg fordern, weil nur dann die Steuer- und Sponsorengelder reichlich fließen. Und Unternehmen mit Faible für den Sieger, der ihr Logo auf dem Treppchen präsentiert. Auch fürs Fernsehen stimmt die Quote, wenn Zuschauer jubeln können über überirdische Leistungen der Jan Ullrichs dieser Welt. Wenn doch einmal ein Sünder auffliegt, dann bleibt diese große Koalition trotzdem bestehen. Politiker drohen dann theatralisch mit „Maßnahmen“, die fast immer ausbleiben. Funktionäre entrüsten sich über „einzelne schwarze Schafe“, die aber eins zeigen: wie prima Dopingtests funktionieren. Theater muss sein: Steuer- und Werbegelder kassiert der Spitzensport ja nur, weil in ihm angeblich Fair Play zu lernen ist und Glaubwürdiges zu sehen. Aber Fair Play und Glaubwürdigkeit sind meist aus den Stadien verbannt, in Labors und Gerichte.

Nichts mehr zu machen, sagen die Untergangspropheten, Menschen, die Doping freigeben wollen, und jene, die den Spitzensport schon aufgegeben haben. Sie sagen: Überall wird dem Fetisch Erfolg gehuldigt, Doping, wohin man schaut. Im Breitensport, bei Kindern, die Muntermacher einwerfen, oder beim Börsianer, der sonst die falsche Taste drückt. Doping zeige Unabänderliches, die Gier nach Ruhm, Geld und Glück.

Diese finale Sicht vernebelt allerdings, dass sich der Pharmasport eindämmen lässt. Zuerst von denen, die den Dopingdruck erzeugen: durch Politiker, die Haushaltsmittel nicht mehr nach Medaillenzahlen lockermachen, stattdessen aber Doping im Strafrecht verankern und den organisierten Sport mit scharfen Antidopinggesetzen wie in Frankreich oder Italien zur Einhaltung seiner Regeln zwingen. Geld zieht auch dann, wenn Politik oder Sponsoren es bei Dopingverstößen entziehen würden. Die Sportverbände wären zu verpflichten, einen größeren Teil ihrer Einnahmen in das Kontrollsystem zu stecken, und obendrein in Prävention, um junge Athleten rechtzeitig aufzuklären. Keine neuen Ideen – neu ist aber, dass sie nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Neu ist auch, dass Journalisten, in Deutschland im „sportnetzwerk“ verbunden, global kooperieren wie die Dopingkartelle, dass sie Siegern mit Skepsis begegnen und Verlierern mit Respekt.

Im Buch Der geklonte Mensch erzählt der Kulturwissenschaftler Alexander Kissler, wie die soziale Utopie von Fortschritt, von einer besseren Welt „ins Menscheninnere wandert“, in die Idee von frisierten Körpern und Hirnen. Über die bessere Welt entscheidet im Sport, dem Geschäft, das von Begeisterung lebt, „der Zuschauer da draußen“. Sieht diese Utopie aus wie derzeit ein olympisches 100-Meter-Finale mit muskelbepackten Robotern, einer wie die Kopie des anderen? In der Antwort liegt Hoffnung, nicht nur für den Sport. Jan Ullrich war das vielleicht nicht bewusst. Aber formuliert hat er es, nach 33 Sekunden.