Jutta Allmendinger hat das, was immer noch viel zu vielen Frauen verwehrt bleibt: Eine Führungsposi­ tion. Sie war Professorin für Soziologie an der Ludwig­ Maximilians­Universität München, später Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt­ und Berufsforschung. Seit 2006 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozial­ forschung, eine international renommierte Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften. Allmendinger forscht unter an­ derem über die Ungleichheit der Geschlechter am Arbeitsmarkt.

fluter: Viele Frauen werden für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt als Männer. Würden Sie als Mann eigentlich mehr verdienen in Ihrem Job?

Jutta Allmendinger: Das weiß ich gar nicht. Ich habe vor meinen Gehaltsverhandlungen mit Männern in ähnlichen Positionen gesprochen, um zu erfahren, was angemessen ist. Aber das war schwierig und unergiebig. Das Thema Geld ist ein Tabu. In den meisten Untersuchungen reden Männer sogar lieber über ihr Sexualleben als über ihr Gehalt.

Über Geld spricht man nicht.

Genau. 

Geht es nur ums Geld, oder bedeutet Arbeit nicht noch viel mehr in unserer Gesellschaft?

Es geht um vieles. Wenn man sich mit nichterwerbstätigen Frauen unterhält, dann sagen die: Wenn ich Arbeit hätte, hätte ich eigenes Geld. Sie wären sogar damit zufrieden, weniger Geld zu haben, nur eigenes muss es sein. Es geht bei der Erwerbstätigkeit aber auch um die soziale Vernetztheit – darum, Freunde zu haben, anderes kennen zu lernen, etwas zu tun, das einen gesellschaftlichen Wert hat. Kurzum, es geht um Teilhabe an der Gesellschaft. Wenn man sieht, wie sehr auch unsere Freizeit von dem geprägt ist, was wir im Arbeitsalltag erfahren, dann ahnt man, was Männern oder Frauen, die lange nicht auf dem Arbeitsmarkt sind, verloren geht. 

Job für dieselbe Tätigkeit?

Man erklärt ihr, dass es dabei auch um die mangelnde Verein- barkeit von Familie und Arbeit geht. Frauen unterbrechen ihre Erwerbsarbeit, dann arbeiten sie Teilzeit. Beides ist für die Entwicklung ihres Stundenlohns nicht vorteilhaft, um es mal vorsichtig auszudrücken. Der Staat ist in der Pflicht, mehr gute Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder bereit zu stellen. Die Arbeitgeber müssen mehr für die Vereinbarkeit tun.

Momentan erleben wir einen wirtschaftlichen Aufschwung, und dennoch gibt es so viele arbeitslose junge Menschen wie selten zuvor – darunter sogar Hochschulabsolventen. Ist eine gute Ausbildung keine Garantie mehr für einen Arbeitsplatz?

Das sind Thesen, die Journalisten produzieren, weil sie lieber Negativ- als Positivszenarien präsentieren. Wir haben im Mo- ment 5,6 Millionen nichterwerbstätige Frauen, aber nur knapp eine Million arbeitslos gemeldete Frauen. Wenn man sich jetzt diese Nichterwerbstätigen anschaut und nach deren beruflicher Qualifikation fragt, also nach Ausbildung oder Bildungsabschluss, dann zeigt sich, dass vor allem jene nicht erwerbstätig sind, die keine oder eine ganz schlechte Ausbildung haben. Eine gute Ausbildung erhöht die Chancen auf Arbeit weiterhin ungemein, sogar noch stärker als früher. Beim Vergleich der Jobaussichten von Niedriggebildeten, Mittelgebildeten und Hochgebildeten sieht man, dass die Schere noch weiter aufgegangen ist. Diejenigen mit schlechter Bildung haben heute überhaupt keine Chance mehr. Der Abstand zu den Hochgebildeten ist viel größer geworden.

Andererseits haben selbst Jugendliche, die brav nach zwölf Jahren Abitur und dann ganz schnell ihren Bachelor gemacht haben, Probleme, Arbeit zu finden.

Nur kurzfristig. Die Suche dauert vielleicht länger. Aber wir dürfen doch nicht so zynisch sein, diese Gruppe mit Menschen ohne Ausbildung gleichzusetzen. Von daher sollten Abiturienten und Studierende auch nicht zu brav sein. Die kolossale Verkürzung der Ausbildungszeit ist auf dem heutigen Arbeitsmarkt nicht zwingend und oft nicht nützlich. Mit 14 Jahren Profilkurse wählen, die dann zu Leistungskursen werden, Abi mit 17 und dann das studieren, was man schon im Abi hatte... Das heißt doch: Ich entscheide mit 14 über meinen weiteren Lebensweg. Das ist absurd. Da müssen Jugendliche, die kaum wissen, was auf sie zukommt, weitreichende Lebensentscheidungen treffen. Das finde ich unverantwortlich.

Nach der Pisa-Studie war die Verkürzung des Abiturs doch ein Hauptpunkt der Bildungsreform.

Überall werden Globalisierung, Internationalisierung und Flexibilität gepredigt. Aber wir domestizieren unseren Nachwuchs. Schüler, die sich ein Jahr von der Schule abmelden, um ins Ausland zu gehen, verlieren ein Jahr, weil sie die elfte Klasse wiederholen müssen. Sie werden zu Sitzenbleibern. Da braucht es schon Rückgrat, um zu sagen: Ich wiederhole einfach eine Klasse. Der Verzicht auf Auslandserfahrung ist aber das Gegenteil dessen, was wir brauchen. Man muss doch auch Zeit haben, her- umzuschnuppern und in Kontakt zu kommen mit ganz unterschiedlichen Nationalitäten, Kulturen und Berufsfeldern. Ich wüsste nicht, wie Kinder sich sonst klar darüber werden können, welche Talente sie eigentlich haben. Denn der strikt durchgestylte Schulunterricht macht die Beschäftigung mit ganz anderen Gebieten – egal, ob etwa Kunst, Musik, Sport oder gesellschaftliches Engagement – kaum möglich. Aus biografischer Sicht ist das eine Zumutung, weil junge Menschen keine Zeit haben, sich auszuprobieren und ihre Interessen zu entdecken. Hinzu kommt nach wie vor die frühe Selektion im Bildungssystem hierzulande.

Die Mehrheit der Bürger will anscheinend diese zügige Selektion. In Hamburg wollte man die Grundschule gerade von vier auf sechs Jahre erweitern, damit die Kinder länger zusammen lernen. Die Mehrheit hat sich dagegen entschieden.

Aber schauen Sie doch mal, wer da abgestimmt hat: Auf jeden Fall nicht diejenigen, die von so einer Reform am meisten profitiert hätten – also zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund. Die durften gar nicht mit abstimmen. Gegen die Reform haben vor allem Bürger gestimmt, die aus den besseren Hamburger Bezirken kommen und deren Kinder sowieso alle Chancen der Welt haben. Insofern taugt Hamburg nicht als Beispiel für eine allgemeine Aussage, sondern allenfalls für die Feststellung, dass Menschen aus oberen Schichten glauben, es schade ihren Kindern, wenn sie mit Kindern aus sozial schwächeren Milieus zusammen erzogen werden.

Und stimmt das nicht?

Es gibt meines Wissens keine einzige empirische Untersuchung, die besagt, dass besseren Schülern das gemeinsame Lernen mit schlechteren schadet. Die Politik darf daher über so etwas keinen Volksentscheid abhalten, weil bekannt ist, dass eine gewisse Klasse dafür sorgt, unter sich zu bleiben. Ich finde, es ist Aufgabe einer Demokratie, allen vergleichbare Lebenschancen zu geben – das steht im Übrigen auch in unserem Grundgesetz.

Werden Bildungs- und Arbeitsplatzchancen quasi von Generation zu Generation vererbt?

In unserem System ist das noch so.

Sie beraten Politik ja regelmäßig. Was raten Sie denn, um die Probleme zu beseitigen?

Ich würde hierzulande vieles verpflichtender machen – etwa den Besuch von Kindergarten oder Kindertagesstätte. Ich wäre auch rigider, was die Deutschkurse anbelangt. Wir wissen nun mal, dass Integration nur über Deutschkenntnisse stattfindet.

Das müsste dann jedes Bundesland einzeln verfügen.

Der Föderalismus ist beim Thema Bildung sehr problematisch, das Kooperationsverbot muss vom Tisch. Unsere Kleinstaaterei behindert Mobilität und damit auch den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Wenn Sie in Berlin in die sechste Klasse gehen, können Sie nicht einfach nach Bayern wechseln – da sind die Schüler nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits viel weiter.

Also brauchen wir eine Bundesbildungspolitik.

Unbedingt. Diese muss auch die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen umfassen, mit einem breiteren Curricculum, kleinen Klassen, individueller Hilfe durch ein Schulkollegium, das nicht nur aus Pädagogen besteht. Wir müssen auch über die Bildung hinaus denken und die Berufsausbildung reformieren. Auch hier brauchen wir ein möglichst breites Curriculum, das einem dann erlaubt, wieder aufzusetzen und neue Dinge zu tun. Ein einjähriges studium generale etwa.

Das Ziel des Bologna-Prozesses war unter anderem eine ver- stärkte Internationalisierung. Ist wenigstens die eingetreten?

Leider nicht, weil nicht nur bei den Gymnasiasten der Anteil jener gesunken ist, die ins Ausland gehen, sondern auch bei den Studenten. Es ist dramatisch: Diese Reform sollte einen europäischen Bildungsraum erschließen, und nun sitzen alle hier an deutschen Schulen und an deutschen Unis und haben keine Zeit mehr für die Ferne. Das ist ein extremer Verlust nicht nur an Bildung, sondern auch an Kompetenzen für das Erwerbsleben. Dabei ist es ein Mythos, dass Arbeitgeber sagen: Wenn du 22 bist, stelle ich dich ein, aber wenn du 24 bist, nicht mehr. Ich kenne keine Arbeitgeber, die das so machen. Ich kenne nur Journalisten, die das so schreiben.

Könnte das bedeuten, dass viele Studierende das Falsche studieren – also nicht das, was ihren eigentlichen Interessen und Talenten entspricht?

Langfristig kann das passieren. Im Moment haben wir eine Ausbildung, die sehr stark auf eine vergleichsweise kurze Erwerbstätigkeit zugeschnitten ist – und dann ist dieser menschliche Leistungsträger oft ausgeblutet und merkt, dass er in einem völlig falschen Arbeitsleben steckt.

Befürchten Sie, dass durch die Reformen im Bildungs- und Schulungsprozess vielleicht in zehn, zwölf Jahren ganz viele Leute depressiv sind und entdecken, dass sie im völlig falschen Job gelandet sind?

Es gibt auf jeden Fall viele Leute, die Fächer nur deshalb studieren, weil diese angeblich gerade gefragt sind oder weil es für diese Fächer Studienplätze gibt – und die anschließend Jobs machen, die sie nicht sonderlich interessieren. Die dürften dann in jungen Jahren ihren ersten Burnout haben.

Sie selbst haben in den USA studiert. Was ist dort anders?

Da ist das Leben anders getaktet, mit Phasen zwischen einzel- nen Abschnitten, in denen man schlicht andere Dinge macht und andere Interessen verfolgt, Dinge für sich ausprobiert, Familien gründet oder sich ehrenamtlich engagiert. In meinem Promotionsstudium der Soziologie und Ökonomie waren wir zwölf Studierende, darunter drei, die zunächst Biologie gemacht haben, zwei ehemalige Medizinerinnen, ein Jurist, ein Chemiker, ein Mathematiker. So etwas finden Sie bei uns nicht. Fachwechsel zwischen Bachelor- und Master-Studiengängen sind selten, zeitliche Unterbrechungen auch. Das ist vielleicht kurzfristig zielführend, aber nicht auf die Länge eines Lebens und nicht auf die langfristigen Folgen für eine Volkswirtschaft hin gesehen.

Unsere Gesellschaft wird immer älter. Kann nicht jeder Jugendliche beruhigt sein, weil er durch diesen demografischen Wandel sowieso Arbeit finden wird, wenn er gut genug ausgebildet ist?

Schon, wenn es nur darum geht, Arbeit zu finden oder nicht. Wenn man sich aber die Frage stellt, ob die Menschen gern zur Arbeit gehen, bin ich schon etwas skeptischer. Ich glaube, dass gerade diese junge Generation unter einem extremen Druck steht, sich genau so zu verhalten, wie es jeder von ihnen erwartet. Die werden alle gemainstreamt, und das finde ich ganz schrecklich.

Plädieren Sie für einen gewissen zivilen Ungehorsam?

Ich plädiere zumindest dafür, dass man die Kinder nicht diesem Zeitdruck aussetzt, sondern ihnen sagt: Jetzt entwickelt euch mal, wir geben euch auch die Zeit dazu. Und man sollte anerkennen, dass Menschen unterschiedlich lange für ihre Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse brauchen.

Jungs scheinen da länger zu brauchen als Mädchen.

Wenn man die Noten und die Abschlüsse betrachtet, schneiden Jungen auf allen Ebenen schlechter ab. Jungen durchlaufen andere Entwicklungsphasen als Mädchen. Sie hinken den Mädchen ein Jahr, manchmal auch länger, hinterher. Da wir aber eine Kultur haben, die auf schnell erlerntes und sofort zu reproduzierendes Wissen setzt, sind die Jungen automatisch die Verlierer, alleine schon durch die genetischen und biologischen Voraussetzungen.

Welche Rolle spielt die Erziehung?

Da gibt es immer noch eine geschlechtsstereotype Sozialisation. So werden Mädchen in der Familie viel stärker und viel früher zur Mitarbeit herangezogen – und zwar gerade wegen ihrer schnelleren Entwicklung. Mädchen bekommen im Alter von fünf oder sechs schon mal einen 20-Euro-Schein in die Hand gedrückt und dürfen einkaufen gehen, weil die Eltern wissen, die erledigen diese Aufgabe gewissenhaft.

Sollen die Mädchen dankbar dafür sein, dass sie eher den Tisch abräumen müssen?

Die Verantwortung, die damit einhergeht, ist etwas, das man für die Schule unbedingt braucht. Die Jungs machen das alles erst Jahre später. Mädchen werden viel früher zur Verantwortung erzogen – mit dem Effekt, dass sie sich nach der Schule besser sinnvoll beschäftigen. Erst einmal Hausaufgaben machen und dann rausgehen. Die Jungs hängen stattdessen vor dem Computer herum oder auf dem Fußballplatz und sagen sich: Hausaufgaben mache ich später. Die Zahlen sprechen ja eine deutliche Sprache:
40 Prozent der Jungs schaffen es auf eine weiterführende Schule und 40 Prozent auch auf eine Hochschule. Bei den Mädchen sind es 60 Prozent. Wir verlieren vor allem am unteren Rand viel zu viele Jungs. Schauen Sie sich diese 15-Jährigen an – da gehört fast jeder Vierte zur Risikogruppe der Bildungsarmen.

So viele?

Ja, und bei den Mädchen sind es unter zehn Prozent. Diese Jungs gehen uns dauerhaft verloren. Und zwar nicht nur im Beruf, sondern auch in Beziehungen, im privaten und gesellschaftlichen Leben. Viele Frauen wollen lieber einen nichterwerbstätigen Akademiker als jemanden, der keine Bildung hat. Das finden sie ganz furchtbar. Vielleicht bekommt man in solchen Beziehungen noch ein Kind, aber dann sagen sich viele Frauen: Erziehen werde ich es lieber alleine.

Was folgt daraus, dass Jungen ständig den Mädchen hinterherhinken?

Es ist nicht schön, wenn man im Kollektiv erlebt, schlechter abzuschneiden. Da entwickeln sich kollektive Reflexe: Alle Lehrer bevorzugen Mädchen, heißt es dann, oder: Alle Jungs sind genauso schlecht wie ich. Diese jungen Männer richten sich in einer Jungmänner-Kultur maximal ein.

Wie kann man diese Kulturen auflösen?

Indem schon die Schule mehr von dem anbietet, woran Männer Interesse haben. Damit sie auch mal Hand anlegen und draußen praktisch etwas machen können.

Aber handwerkliche Fähigkeiten werden doch in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr nachgefragt.
 

Es ist in der Tat ein Problem, dass diese traditionellen Männerarbeiten im industriellen Sektor immer weniger nachgefragt werden. Wir müssen also diese jungen Männer von heute schon in der Schule viel mehr auf so genannte Mädchenjobs vorbereiten. Es gibt zwar viele Programme, um Frauen in von Männern dominierten Berufen Fuß fassen zu lassen, aber komischerweise ganz wenige Programme für Männer in Frauenfächern – die aber die Fächer der Zukunft sind. Wir werden in einer alternden Gesellschaft zum Beispiel mit Sicherheit viel mehr Pflegepersonal brauchen. Aber wer schult bitte junge Männer, damit sie solche Arbeiten übernehmen können?

Pflege gilt als völlig unterbezahlter Frauenberuf.

Insbesondere bei uns. In anderen Ländern sind auch dies akademische Berufe. Das wertet ein Berufsbild auf. Man muss die Bezahlung dieser Arbeiten verbessern. Die psychische Belastung bei der Pflege ist enorm, und von der körperlichen Belastung her würde ich Pflegeberufe Jobs auf dem Bau gleichstellen. Es wird in Zukunft auch um die Betreuung von kleinen Kindern gehen, weil es in der Zukunft mehr gut ausgebildete Frauen geben wird, die erwerbstätig sind – was ja auch zu wünschen ist. Momentan sind sehr viele Berufe im Dienstleistungssektor Frauenberufe. Das muss sich ändern.

Von den Chefärzten in deutschen Kliniken oder Klinikdirektoren sind geschätzte 90 Prozent Männer. Wie kommt’s?

Weil wir in Deutschland bei den Frauen das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht im Griff haben. Viele Frauen bekommen irgendwann ein Kind, und dann gibt es nicht genügend Betreuungsplätze, damit die Frau weiter arbeiten kann. Und der Vater übernimmt seinen Anteil an Betreuung und Erziehung nicht. Man muss sich mal vorstellen, dass es schon als extrem ehrgeiziges und nicht zu erreichendes Ziel gilt, jedem dritten Kind in Deutschland einen Kitaplatz zu besorgen. Im Schnitt gelingt das bei weniger als jedem sechsten Kind. Im Vergleich zu Frankreich oder Norwegen ist das läppisch.

Sind Frauen nicht gewollt in der Arbeitswelt?

Sagen wir mal so: Ich glaube, es hat sich noch nicht richtig bei allen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frauen nicht nur gewollt sein sollten – sondern dringend benötigt werden. Nicht nur aus demographischen Gründen. Untersuchungen in den USA zeigen, dass Teams von Männern und Frauen im Arbeitsprozess sehr gewinnbringend sind, in jeder Hinsicht. Das machen sich deutsche Unternehmen zu wenig klar. Dadurch sind auch so wenige Frauen in den Netzwerken, die einen letztlich in höhere Positionen bringen. Daher sind es immer noch die Männer, die Chefs werden.

Sind Sie für eine Frauenquote?

Ich bin zumindest für Anschub beziehungsweise Einführungsquoten, weil ein gewisser Anteil von Frauen gebraucht wird, um ein allgemeines Umdenken anzustoßen.

Wie schwer haben es denn berufstätige Frauen, nach dem Kinderkriegen wieder in den Job zu kommen?

Sehr schwer. Und je länger man unterbricht, desto schwerer wird es. Am Anfang spürt man es nicht so stark, man hat genug zu tun, wenn die Kinder klein sind. Das soziale Umfeld ist voller anderer Mütter, es gibt Aktivitäten rund um die Schule. Später aber, wenn das Kind von der Schule geht, bricht das alles weg. Selbst hoch gebildete, studierte Frauen leiden in diesen Phasen unter starken Selbstwertproblemen. Sie glauben, dass sie eigentlich gar keine Fähigkeiten haben. Dabei haben diese Frauen Kinder erzogen und in der Schule als Elternsprecherin gewirkt – alles Qualifikationen, die man gut ins Arbeitsleben einbringen könnte. Wer aber über viele Jahre vom Arbeitsprozess abgekoppelt ist, traut sich schlichtweg nichts mehr zu – das ist auch bei vielen Langzeitarbeitslosen so.

Ist „Bürgerarbeit“ eine Lösung? Also die Chance, für gemein- nützige Tätigkeit eine Art Lohn zu bekommen?
Ja. Erwerbstätigkeit gibt Menschen auch Würde, sie baut Selbstbewusstsein auf, bringt neue Kontakte. Würde erlangt aber nur, wer in der Lage ist, nicht nur unter Zwang tätig zu sein, sondern aufgrund eigenen Wollens. Das halte ich für absolut notwendig.

Sind Sie auch für Grundeinkommen?

Es ist die Frage, inwieweit wirklich alle Menschen ein Grundeinkommen bekommen sollen. Warum sollen Menschen, die das gar nicht nötig haben, eines beziehen können? Ich bin aber für einen Mindestlohn und für einkommensabhängige Transferleistungen. Warum bekomme ich etwa Kindergeld? Das haben andere viel nötiger.

Sehen Sie eigentlich durch die technologische Entwicklung wie das Internet mehr Chancen auf ein selbstbestimmtes Arbeiten? Dass man also nicht von neun bis fünf ins Büro gehen muss, sondern auch am Strand oder im Café seine Arbeit am Laptop erledigen kann.

Das ist eine virtuelle Mobilität, die aber ohne eine vorherige Interaktion mit realen Menschen nicht möglich ist. Man muss die Menschen, mit denen man per E-Mail vernetzt ist, schon kennen gelernt haben. Dann aber ist diese Mobilität hervorragend und kann vieles erleichtern.

Sozialforscher trauen sich manchmal Prognosen zu. In welche Richtung entwickelt sich unsere Arbeitswelt?

Weil ich keine wirklich ernst gemeinten Vorstöße zum Abbau von Bildungsarmut sehe, werden wir dauerhaft eine Schicht von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung bekommen, die keine Möglichkeit hat, kurz-, mittel- und langfristig an der Gesellschaft teilzuhaben. Bei den Frauen befürchte ich einen weiteren Geburtenrückgang. Denn wenn sie aufgrund ihrer Bildung in gute Positionen kommen und feststellen, dass sich das mit Kindern nicht realisieren lässt, werden sie eher auf Kinder als auf die Karriere verzichten. Wir haben dann viele gut ausgebildete Frauen, die Karriere machen, aber keine Kinder haben, und auf der anderen Seite Frauen mit schlechter Ausbildung und Kindern. Es sei denn, wir legen ein höheres Tempo vor: beim Ausbau der Möglichkeiten zur Kinderbetreuung, dabei, Väter in die Erziehung einzubinden – und dabei, Vorurteile abzubauen wie jenes, dass eine Rabenmutter ist, wer seine Kinder von anderen betreut lässt. Daran müssen wir dringend arbeiten.