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„Sie wollen kämpfen“

In „Espero tua (re)volta“ zeigt Eliza Capai, wie brasilianische Schüler ihre von der Schließung bedrohten Schulen einfach besetzen. Plus: Trotzige, solidarische Frauen

  • 5 Min.
Berlinale-Film Espero tua (re)volta (Foto: Eliza Capai)

fluter.de: Im Jahr 2015 gab es eine Welle von Schulbesetzungen in Brasilien. Wie kam es dazu? 

Eliza Capai: Der Auslöser war eine Reorganisation des Schulwesens in São Paulo, dem bevölkerungsreichsten Staat in Brasilien. Der Gouverneur sagte im Fernsehen, dass 94 Schulen in ein paar Monaten geschlossen werden sollten. Davon wären 300.000 Schüler betroffen gewesen. Mit den Schulen hat keiner vorher gesprochen. 

Die Schüler hätten ja auch demonstrieren können. 

Das taten sie auch. Wie es dann genau zu den Besetzungen kam, darüber gibt es verschiedene Theorien. Eine Gruppe jedenfalls hat eine Doku auf Youtube gesehen, wo chilenische Studenten eine Uni besetzt haben. Das hielten sie für eine gute Idee, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Die ersten Besetzungen waren spontan, dann haben es andere Schüler nachgemacht. Irgendwann waren dann 200 Schulen besetzt. 

In „Espero tua (re)volta“ wirkt es, als hätte da eine Generation ein politisches Erweckungserlebnis. 

Ja, absolut. Das ist die erste Generation, die in der Demokratie geboren wurde, und ich glaube, das ist der Grund dafür, dass sie ihre Interessen so vehement vertraten. Sie haben damit eine Welle ausgelöst. Das Kulturministerium sollte auch viele Einrichtungen schließen. Die wurden dann von Künstlern besetzt. Die Schließungen wurden vom Präsidenten zurückgenommen. Jetzt sind sie allerdings wieder zu. 

Wie lange waren die Schulen denn besetzt?

Die meisten ein bis zwei Monate, eine sogar fast drei Monate. Es war spannend, was in den Schulen in dieser Zeit passiert ist. Die Schüler haben sich selbst viel beigebracht und ihre Rollen überdacht. In Brasilien sind es immer die Frauen, die kochen und sauber machen. So war das in den besetzten Schulen am Anfang auch. Die Jungs haben die Kommunikation und die Sicherheit organisiert, die Mädchen gekocht und geputzt. Das haben die dann besprochen und umgedreht. Es wurde viel debattiert, wie man miteinander umgehen soll. 

Die Doku besteht zu großen Teilen aus Aufnahmen, die die Schüler selbst gemacht haben. Man sieht, wie die Polizei mit Gewalt gegen die Kinder vorgegangen ist. 

Unsere Militärdiktatur ging 1985 zu Ende. Ein Erbe dieser Zeit ist die Macht der Militärpolizei. Da herrscht noch die Mentalität der Diktatur, das hat sich nicht geändert. Das Bedrückende ist, dass die Polizei in eher reichen Gegenden so aggressiv vorging. Was machen die dann erst in den armen Gegenden, wo sie niemand filmt? Brasilien gehört zu den Ländern mit den meisten Todesfällen durch Polizeigewalt. Und das wird sicher nicht weniger werden. Unser neuer Präsident hat die Rechte der Polizei gerade noch gestärkt. 

Die Schüler haben nicht nur Solidarität aus der Bevölkerung bekommen. 

Ein Teil der Gesellschaft war sehr unterstützend. Manche, berühmte Lehrer und Künstler, kamen in den besetzten Schulen vorbei. Andere spendeten Matratzen, Essen, Kleidung – was auch immer gebraucht wurde. Auch auf den Straßen wurden die Schüler gegen die Polizeibrutalität verteidigt. Es gab aber auch viele, die in den Schülern Vandalen gesehen und das Vorgehen der Polizei verteidigt haben. Wie die Gesellschaft mit ihnen umgegangen ist, zeigt die Zerrissenheit unseres Landes im Kleinen. 

Wie denken die Schüler aus dem Film denn über die aktuelle politische Entwicklung? 

Viele sind bereit zu protestieren. Sie sind aufgewachsen in einer Zeit des sozialen Fortschritts, der jetzt gefährdet ist. Sie wollen kämpfen. Aber auch die Polizei ist radikaler geworden. Die Besetzungen haben aufgehört, weil sich die Gesetze geändert haben. Es ist jetzt viel gefährlicher für die Besetzer, denn die Polizei darf jetzt ohne richterliche Anordnung räumen. Es gibt mehr Druck auf soziale Bewegungen. Jair Bolsonaro hat ja Folter und Tötung als politische Mittel in seinem Wahlkampf propagiert. Ich hatte auch Angst, dass ich die Schüler durch meinen Film in Gefahr bringe. Ich habe mit ihnen gesprochen und das diskutiert, sie waren aber der Meinung: Wir müssen das zeigen, es ist wichtiger denn je. 

(fx)

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Trotzig, solidarisch und wild entschlossen

… sind viele Mädchen und Frauen in den Filmen der diesjährigen Berlinale. Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, kämpfen gegen Widerstände und wachsen über sich hinaus. Diese hier haben uns besonders begeistert 

Beauty, Natalie und Poppie aus „Flatland“ (Jenna Bass)

Es wird scharf geschossen in diesem nicht ganz typischen Bonnie-und-Clyde-Roadmovie, das auf den staubigen Landstraßen Südafrikas spielt: von Beauty, der supercoolen Polizistin, deren Verlobter seit 15 Jahren im Gefängnis sitzt. Nur die Liebe zu ihm bringt sie zeitweise aus dem Konzept. Und von Natalie, die in ihrer Hochzeitsnacht vergewaltigt wird und kurz darauf einen weiteren Peiniger erschießt. Und dann ist da noch Poppie, beste Freundin und Ziehschwester von Natalie, 16 und hochschwanger von einem unsteten Trucker, der sich prompt an Natalie ranmacht. Auf der Flucht vor der Polizei, also vor Beauty, werden die Freundinnen mit Diskriminierung konfrontiert, mit unerfüllten Träumen und verbotenem Verlangen. Beauty, Natalie und Poppie sind den Männern in diesem Film auf jeder Ebene überlegen – sei es moralisch, sei es, weil sie Mut beweisen, weil sie sich nicht unterdrücken lassen und für ihre Freiheit, ihre Liebe und ihre Freundschaft kämpfen.

Peipei aus „The Crossing“ (Bai Xue)

Die 16-jährige Peipei pendelt täglich in der Transitzone der Grenzmetropolen Hongkong und Shenzhen zur Schule. Zu Hause ist sie nirgends so richtig. Das liegt nicht nur an der Wohnsituation, denn Peipei ist vor allem auf der Suche nach der Unabhängigkeit, die das Erwachsensein verspricht. Für den lang ersehnten Japan-Urlaub mit ihrer besten Freundin braucht sie Geld, und das will sie sich endlich selbst verdienen. Durch Zufall ist sie plötzlich Teil einer Bande, die die neuesten iPhone-Modelle, aber auch Waffenattrappen über die Grenze schmuggelt. Der Reiz des Verbotenen und der Drang, sich zu beweisen, lassen Peipei zu der werden, die sie sein will: cool, selbstständig, erwachsen. Sie überschreitet nicht nur eine räumliche Grenze, sondern auch eine ganz persönliche. Tatsächlich ist der Grenzübergang für das Schmuggeln von Elektrogeräten und Luxusgütern berüchtigt. Letztes Jahr fiel den Zöllnern eine Frau auf, deren Kleidung sich merkwürdig ausbeulte – sie hatte darunter 102 iPhones und 15 Luxusuhren versteckt.

Benni aus „Systemsprenger“ (Nora Fingscheidt)

… heißt eigentlich Bernadette, doch diesen Namen hasst sie. Mit ihren Wutausbrüchen jagt die Neunjährige nicht nur den Nachbarjungs Angst ein, auch ihre Mutter ist mit dem unberechenbaren Mädchen überfordert. Bald will keine Einrichtung Benni mehr aufnehmen, nirgendwo kann sie ankommen, und so rutscht sie immer tiefer in eine Spirale aus Wut und Verlustängsten. Dabei will sie eigentlich nur zurück zu Mama. Zwei Dinge sind an diesem Film besonders. Erstens, dass die Bezeichnung „Systemsprenger“ tatsächlich für Kinder wie Benni benutzt wird. Ein solcher Fall begegnete der Regisseurin bei der Recherche. Den Begriff selbst findet sie schwierig, denn das Problem seien nicht die Kinder, wie man annehmen könne. Stattdessen habe das System es nicht geschafft, den Kindern ein stabiles Zuhause zu geben. Zweitens die elfjährige Helena Zengel. Ihre Benni lässt keinen Zuschauer kalt. Sie zeigt die Verzweiflung, aber immer wieder auch die Hoffnung einer kleinen großen Kämpferin.

„Goldie“ (Sam de Jong)

… muss von jetzt auf gleich erwachsen werden. Sie ist gerade 18 geworden, da wird ihre Mutter verhaftet, und Goldie steht mit den zwei jüngeren Schwestern alleine da. Die neue Situation bringt sie an ihre Grenzen. Auch ihr persönliches Glück – der Traum, als Tänzerin in einem Musikvideo groß rauszukommen – muss erst mal warten. Sie jagt Tag und Nacht durch die Stadt, hin- und hergerissen zwischen dem, was vernünftig und letztlich unvermeidlich ist – die Unterbringung ihrer Schwestern in einer Pflegefamilie –, und dem verzweifelten Versuch, doch noch selbst eine Lösung zu finden, um die Familie zusammenzuhalten. Dabei steht ihr vor allem der eigene Stolz im Weg. Und obwohl der Musikvideo-Dreh in einem Desaster endet, ist man sich irgendwie sicher, dass Goldie immer ihr Ding durchziehen wird, so grandios spielt die erst 22-jährige Slick Woods diese Rolle. Da mag auch daran liegen, dass sie mit ihrer Rolle einiges gemein hat: Auch ihre Mutter sitzt im Gefängnis. Woods war sogar kurze Zeit obdachlos bevor sie entdeckt und Rihannas Muse wurde. Im letzten September wurde Slick Woods Mutter eines Sohns.

 

(sa)

Foto: Flatland Productions

 

Titelbild: Eliza Capai

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.