Wie rasch er die Augen wieder öffnet. Wie er sich mit einem Ruck erhebt, zum Fenster geht und in den Abendhimmel schaut. Ahmad kann nicht schlafen, wie so oft. Wenn es dunkel wird, kommen die Gespenster. Die ihn fragen, wo er ist. „Alles kommt mir vor wie in einem Traum“, sagt er und schlurft zurück zum Bett. Im Mai 2012 holten deutsche Ärzte den damals 17-Jährigen aus dem künstlichen Dauerschlaf. Acht Wochen hatte er im Koma gelegen, wegen der Schmerzen. Als Ahmad wieder die Augen öffnete, war sein erster Gedanke: Furcht. Der zweite: Was ist Deutschland? Seitdem sortiert er sein Leben neu, wie die Buchstaben A und B im Deutschheft, das er nun aus der Schublade neben seinem Bett holt. Er kreist die Buchstaben mit einem Bleistift ein, hier in der Schön-Reha-Klinik im oberbayerischen Vogtareuth.

Einen Meter rechts von ihm liegt Hanadi. Seine 12-jährige Schwester atmet schwer. „Warum ich hier bin?“ Ahmad lacht, er kratzt sich am verknorpelten Ohr. „Das frage ich mich nicht mehr. Die Antwort kennt nur Allah.“ Am 13. März 2012 stehen Hanadi und Ahmad in der Küche ihres Elternhauses in al-Qusair, einer Stadt mit schätzungsweise 40.000 Einwohnern südwestlich von Homs in Syrien, als eine Granate einschlägt. Der Gaskocher neben ihnen explodiert, die Geschwister stehen in Flammen. Rund drei Viertel von Hanadis Haut verbrennen, bei Ahmad ist es mehr als die Hälfte. Rebellen der „Freien Syrischen Armee“ laden beide auf einen Pick-up und rasen auf Schleichwegen an die 30 Kilometer entfernte Grenze zum Nordlibanon – in ihrer im Bürgerkrieg versinkenden Heimat kann kein Krankenhaus sie aufnehmen; die Eltern bleiben zurück, sie vermissen zwei weitere Kinder. Von der Grenze bringt ein Rettungswagen des Roten Halbmonds Hanadi und Ahmad in das Krankenhaus Hôpital de la Paix nach Tripolis.

Aus anderer Richtung macht sich Carsten Stormer auf den Weg in den Libanon. Der Reporter bereist weltweit Krisengebiete und will im Libanon über die Lage syrischer Flüchtlinge recherchieren. Im Hôpital de la Paix hört er am 18. März von Hanadi und Ahmad. Die Ärzte können nichts für die beiden tun – sie benötigen dringend gezüchtete Haut, die es im Libanon nicht gibt. Als Carsten Stormer helfen und die Patienten fotografieren will, lehnt der behandelnde Arzt das ab. „Ich kenne euch Journalisten“, sagt er, „ihr versprecht Hilfe, macht eure Fotos und verschwindet für immer.“ Aber der Arzt resigniert, lässt Carsten Stormer für 10 Sekunden zu Hanadi, für 20 zu Ahmad. Noch geschockt vom Anblick der von Wundsekret durchsickerten Verbände fährt der Reporter zu einem Internetcafé und postet die Aufnahmen der beiden auf seiner Facebook-Seite: „Hanadi und Ahmad sind schwer verwundet, die Kinder werden ohne Hilfe nicht überleben.“

Am Anfang steht ein kurzes Posting – später arbeiten 15 Ärzte ehrenamtlich

Dieser Satz wandert ins Internet und landet binnen Sekunden bei seinen mehr als 1.300 „Freunden“, die er bei Facebook hat. Im über 2.500 Kilometer entfernten München zappt sich an jenem Sonntagabend Veronika Faltenbacher, 35, durchs Fernsehprogramm, nebenbei ist sie online. Als sie Carsten Stormers Nachricht liest, denkt sie nicht lange nach. Gerade war ihr Plan geplatzt, sich selbstständig zu machen. „Ich hatte Zeit. Und ich dachte nicht nach, ob, sondern wie ich helfe. Dann lief alles automatisch ab.“ Veronika Faltenbacher schickt eine SMS an einen Bekannten, Hanns-Georg Klein, er ist Labormediziner und Humangenetiker. Der informiert am nächsten Morgen einen Kollegen, der wie er im Münchener Martinsrieder Zentrum für Humangenetik arbeitet: Prof. Hubertus von Voss, erfahren in Kindernothilfseinsätzen in Afghanistan. Der 69-Jährige ist überzeugt: Ein Land wie Deutschland, das so viele Waffen verkauft, muss Verletzten kompromisslos helfen. Er schickt eine E-Mail an Veronika Faltenbacher, in der er nach dem Grad der Verletzungen fragt. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

Zwei Tage später kursiert der erste Spendenaufruf im Internet. Während sich Veronika Faltenbacher um einen ADAC-Hilfsflug bemüht, sucht Hubertus von Voss eine Klinik, die die Geschwister aufnimmt. In einer sagen die leitenden Ärzte zu, die Verwaltung lehnt jedoch ab, eine weitere Klinik springt ein. Binnen weniger Tage hat sich ein sechsstelliger Eurobetrag auf dem Konto angesammelt, neben einer großen Einzelspende auch viele kleinere Beträge. Der Rettungsflieger hebt in München ab in Richtung Naher Osten, um die Patienten aus dem Libanon zu holen. Mit multiplem Organversagen landen die beiden Jugendlichen in der Nacht zum 31. März in München. Fünfzehn Ärzte operieren rund um die Uhr ehrenamtlich bis in die Ostertage hinein, dann steht fest: Hanadi und Ahmad sind gerettet. Sie bleiben jedoch noch im künstlichen Dauerschlaf.

Die beiden sind in München, ihre Verwandten in Syrien auf der Flucht

Ihr 30-jähriger Cousin Amin ist bei ihnen. Er war vor dem Militärdienst aus Syrien in den Libanon geflohen und ins Krankenhaus von Tripolis geeilt, als er von dem Unfall erfuhr. Um seine Verwandten in Deutschland nicht allein zu lassen, packt Amin eine Plastiktüte mit Kleidung und fliegt ihnen nach. Während Hanadi und Ahmad im Koma liegen, helfen immer mehr Menschen. Schulkinder sammeln in München Spenden, andere verkaufen selbst gebastelte Postkarten. Und der Staat reagiert. Ein Anwalt beantragt für die drei Syrier eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aus humanitären Gründen – mit Erfolg: Nun kümmert sich das Münchener Sozialamt um die Kosten, und das Amtsgericht bestellt einen Vormund.

Jetzt, in der Reha in Vogtareuth, müssen sich Hanadi und Ahmad auf ein Leben außerhalb der Krankenhauswände vorbereiten, in einem fremden Land. Ahmad kratzt sich am Oberschenkel. Es juckt. Die neue Haut ist zu kurz, sie zieht sich zusammen wie ein Gummiband. „Ich weiß nicht, ob ich zurückwill oder nicht“, sagt er. In al-Qusair arbeitete er als Autowäscher, später wollte er Kfz-Mechaniker werden. Hanadi ging damals noch zur Schule, an den Angriff erinnert sie sich kaum.

Während Amin mit der linken Hand zu einer Cremetube greift, um den Oberschenkel seines Cousins einzureiben, hält er in der rechten die Fernbedienung für den Fernseher. Den Sender al-Dschasira, der direkt und schonungslos vom Krieg in Syrien berichtet, will er unbedingt überspringen. Auch ein deutscher Fernsehsender berichtet von syrischen Flüchtlingen, die an der türkischen Küste ertrunken sind. Amin zappt weiter. Gerade hat er eine SMS an seinen Onkel verschickt – er weiß nicht, ob sie ankommt. Hanadis und Ahmads Vater wechselt jeden Tag in Syrien den Aufenthaltsort. Hält er sich in der Nähe zum Libanon auf, kann er über ein libanesisches Handy Anrufe erhalten. Heute aber bleibt Amins Handy still. Vielleicht könnten sie über das Internet Kontakt aufnehmen.