Während auf der Leinwand die erste Prognose angekündigt wird, zerbricht auf dem Boden klirrend das erste Glas. Rund 250 Studenten drängen sich an diesem Donnerstagabend in einer Bar der University of Bristol, der Balloon Bar, die anlässlich der Parlamentswahlen zu einem „General Election All Nighter“ eingeladen hat. Dass der Name keine Übertreibung ist, ist von Anfang an klar: Die britischen Wahllokale sind bis 22 Uhr Ortszeit geöffnet und die Studenten aufgekratzt und nur allzu diskussionsbereit. Hochkonzentriert Ergebnisse zu verfolgen und dabei ordentlich an der Bar zuzugreifen schließt sich offenbar nicht aus. Dass da mal ein Glas zu Bruch geht oder man sich aus Platzmangel zwischen „Caution: Wet Floor“-Schildern auf den Boden kauern muss, nehmen die Studenten gerne in Kauf. Viele von ihnen hoffen, wenn auch recht mutlos, auf einen Sieg der Labour-Partei. Die wenigen Konservativen sind sich ihres Sieges umso sicherer.

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Junger Anhänger der Konservativen in einer Bar

Nach der ersten Prognose um kurz nach 22 Uhr ist klar: Es sieht nicht gut aus für die Tories. 326 der 650 Sitze sind für eine Mehrheit im Parlament nötig – erreichen werden sie nur 318

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Studentin auf einer Wahlparty in Bristol

You kidding me?! Die Corbyn-Fans können ihr Glück noch nicht fassen: 29 Sitze legte die Labour-Partei zu und kommt somit auf 261 Mandate

 

Die Ergebnisse

Die regierenden Konservativen haben die absolute Mehrheit im Parlament verloren. 326 von 650 Sitzen wären dafür nötig gewesen – erreicht haben die Tories jedoch nur 318. Die Labour-Partei dagegen legte um 29 Sitze zu und kommt auf 261 Mandate. Die drittstärkste Partei, die Schottische Nationalpartei, machte Verluste und behält 35 Sitze, die viertstärkste, nämlich die Liberaldemokraten, gewannen dazu und kommen auf 12 Mandate. Die EU-feindliche UKIP-Partei ging leer aus.

Es ist 22:02 Uhr und für einen Moment: totenstill. Dann bricht in großen Teilen der Bar Jubel aus: „Hung parliament!“ Es wird keine Mehrheit mehr für die Tories geben, lautet die Prognose, die sich in den Morgenstunden bestätigen wird. Dass unter jungen studentischen Wählern in einer Stadt wie Bristol, die als kreativ und alternativ gilt und in der letzten Legislaturperiode drei Labour- und nur eine Tory-Abgeordnete zählte, eine Mehrzahl für Labour ist, überrascht nicht. Dass die Partei im gesamten Land so gut abgeschnitten haben soll, hingegen schon.

Nicht alle hier sind positiv überrascht. An einem großen Ecktisch sitzen sechs junge Menschen zwischen 19 und 21, sie sind Mitglieder der Tory-Hochschulgruppe. Einen „landslide“ für die Tories hatten sie sich ausgerechnet, einen erdrutschartigen Sieg. Jamie, 20, Geschichtsstudent, ist überzeugt von Theresa Mays Brexit-Verhandlungsstrategie „No deal is better than a bad deal“: „Stell dir vor, ich hätte Interesse, dein Haus zu kaufen, und würde sagen: ‚Ich kaufe es sowieso, egal was du mir anbietest.‘ Das ist doch keine Verhandlungsbasis! Es ist besser zu sagen: ‚Wenn der Deal nicht stimmt, dann lasse ich es eben bleiben.‘“

Bei den Labour-Anhängern stehen sozialpolitische Themen im Fokus. „Als Transfrau weiß ich, wie wichtig es ist, dass der National Health Service, unser öffentliches Gesundheitssystem, stabilisiert und gestärkt wird“, sagt Nicky, 26. Sie studiert Politik und ist Mitglied in zwei LGBT-Gruppen, einer an der Uni und einer in der Labour-Partei. Die von manchen Parteifreunden kritisierte Linksorientierung durch Jeremy Corbyn findet Nicky gerade gut: „Mein Vater zerriss seinen Labour-Mitgliedsausweis, als Tony Blair in den Irakkrieg zog. Jeremy Corbyn war damals dagegen. Außerdem ist er jemand, der sich wirklich für Minderheiten einsetzt und Menschenrechte achtet.“ 

Für Premierministerin Theresa May bedeutet dieses Ergebnis nach Einschätzung vieler Beobachter ein Desaster. Nicht nur Labour-Chef Jeremy Corbyn, sondern auch Politiker aus Mays eigenen Reihen fordern ihren Rücktritt. May kündigte jedoch an, im Parlament bleiben und am Nachmittag die Königin um Erlaubnis bitten zu wollen, eine neue Regierung zu bilden. Wie diese aussehen wird, ist noch unklar. Wahrscheinlich ist aber ein „hung parliament“, eine in Großbritannien seltene Minderheitsregierung.

Als Corbyn auf dem Bildschirm erscheint, jubeln ihm viele in der Bar zu. „Je-re-my! Je-re-my!“, skandieren die Studenten, fast wähnt man sich in einem Fußballstadion.

Doch nicht alle, die für Labour sind, haben auch Labour gewählt. Lawrence, 22, hat den Liberal Democrats seine Stimme gegeben. Politisch steht er zwischen Labour und den sogenannten LibDems, deshalb ging er taktisch vor: „In meinem Wahlkreis, Richmond Park in London, hat Labour keine Chance. Deshalb setze ich darauf, dass die Lib Dems die Tories raushauen.“

Diese Taktik kann aufgehen, weil in Großbritannien kein Verhältniswahlrecht, sondern ein Mehrheitswahlrecht gilt: Die 650 Sitze im Unterhaus werden von Direktkandidaten besetzt, die die meisten Stimmen in ihrem jeweiligen Wahlkreis erhalten haben.

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Die 23-jährige Literaturstudentin Phoebe ist für die Grünen. Am meisten überzeugt sie die Arbeit der bislang einzigen Grünen-Abgeordneten, Caroline Lucas. Und in Phoebes Wahlkreis Bristol West hatte mit Molly Scott Cato auch tatsächlich eine grüne Kandidatin eine Chance auf einen Sitz. 

Auch muss sich noch zeigen, wie sich das Wahlergebnis auf die in zehn Tagen beginnenden Brexit-Verhandlungen auswirken wird. Experten vermuten, dass sich die Verhandlungen verzögern, EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger etwa sagte dazu: „Mit einem schwachen Verhandlungspartner läuft man Gefahr, dass die Verhandlungen für beide Seiten schlecht laufen.“

Andere kleine Parteien scheinen an diesem Abend in der Balloon Bar keine Rolle zu spielen. Zur rechtspopulistischen UK Independence Party (UKIP) mag sich niemand bekennen. Als der ehemalige Parteivorsitzende Nigel Farage als Interviewgast auf der Leinwand erscheint, heben Dutzende wütend den Mittelfinger, „Fuck you“-Rufe füllen den Raum. Auch Anhänger der Scottish National Party (SNP), die viele Stimmen verloren hat, sucht man hier vergeblich – was unter anderem daran liegen könnte, dass nur wenige Schotten in Bristol studieren: In Schottland sind Bachelorstudiengänge, anders als in England, gebührenfrei. „Nicola Sturgeon (die SNP-Vorsitzende, Anm. d. Red.) hat ihre Kampagne zu stark auf ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum konzentriert, das hat viele jener Leute von der Partei abgebracht, die gegen eine Abspaltung oder noch unentschieden sind“, vermutet Nicky, deren Mutter aus Schottland stammt. 

Wenige Stunden nach Mitternacht verlieren die Tories ihren ersten Wahlkreis an die Labour-Partei; sowohl Stimmung als auch Raumtemperatur sind am Siedepunkt. Manche Studenten fächeln sich mit zusammengefalteten Prospektblättern Luft ins Gesicht, andere rufen noch immer ausgelassen, allmählich aber heiser werdend, Parolen durch die Bar. 

Sie hallen bis nach draußen, Hunderte Meter weit die Straße entlang. Ein junger Mann mit kurzen Locken steigt auf sein Fahrrad, fährt lächelnd in die Nacht. Zwei junge Frauen laufen in die entgegengesetzte Richtung, zurück Richtung Balloon Bar. Als in dieser erneut Jubel ausbricht, beschleunigen sie ihre Schritte, schlüpfen schnell ins Warme. Bevor die jungen Frauen im Trubel verschwinden, hört man sie noch sagen: „This sounds exciting.“