Deutschland, das Land der Ingenieure? Mag sein. Doch noch mehr Geld als im Maschinenbau bewegen hierzulande die Versicherungsunternehmen, 2012 lag der Umsatz bei 244,7 Milliarden Euro. Die einen stellen Autos, Maschinen und sonstige technische Geräte her – die anderen erzeugen ein Gefühl der Sicherheit. Ein gefragtes Produkt: Über die Hälfte der Deutschen fürchtet sich laut einer Studie des Rückversicherers R+V vor steigenden Lebenshaltungskosten, Naturkatastrophen und Pflegebedürftigkeit im Alter. „Die gesamte Branche lebt von der Angst“, erklärt der Kölner Versicherungsmakler Walter Benda.

Die Idee, den Schaden eines Einzelnen auf mehrere Schultern zu verteilen, reicht weit zurück. Schon im zweiten Jahrtausend v. Chr. sprangen in Babylon Karawanenteilnehmer gemeinsam für den Verlust eines anderen Mitglieds ein. Im alten Griechenland mussten Kaufleute das sogenannte „Seedarlehen“ nur dann zurückzahlen, wenn ihr Schiff wieder heil zurückgekehrt war. In Deutschland setzten sich Brandgilden, die Schäden im Falle eines Feuerausbruchs abdeckten, im 16. Jahrhundert durch. Anders als heutzutage zahlten die Mitglieder allerdings immer erst, wenn tatsächlich das Haus eines anderen abgebrannt war. Mitte des 18. Jahrhunderts gingen aus diesen kleinen regionalen Brandkassen schließlich Landeskassen hervor, in denen alle Hausbesitzer, zum Teil sogar verpflichtend, versichert wurden.Das Geschäftsmodell floriert. Rund 460 Millionen Versicherungsverträge bestanden für deutsche Haushalte, Selbstständige und Unternehmen 2013. Für Lebens-, Schadens- und Unfallversicherungen sowie die private Krankenversicherung zahlte der Durchschnittsdeutsche 2013 über 2.300 Euro, besagt eine Übersicht des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dem Interessenverband der privaten Versicherungswirtschaft. Damit liegt der deutsche Versicherungsmarkt im weltweiten Vergleich auf Platz sechs.

Da dieser Brandschutz nicht für Fabriken und Maschinen galt, kam im Zuge der industriellen Revolution mit der „Phoenix Assurance Company“ der erste englische Privatversicherer nach Deutschland – zunächst 1786 mit einer Niederlassung in Hamburg, dann ab 1812 flächendeckend. Anders als bei den Vorläufermodellen wurde nicht mehr im Schadensfall umverteilt, sondern die Wahrscheinlichkeit von Risiken prognostiziert. Versicherungen begannen, Rücklagen zu bilden und verschiedene gesellschaftliche Schichten einzuschließen.

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden dann durch Bismarcks Sozialgesetzgebung Versicherungen für Arbeitnehmer. Noch ist die deutsche Versicherungskultur geprägt durch dieses duale System aus öffentlichen Kassen für Gesundheit, Rente und Pflege, die teils von den Arbeitnehmern, teils von den Arbeitgebern finanziert werden, sowie privaten Versicherungen, die jeder zusätzlich abschließen kann – passend zum individuellen Sicherheitsbedürfnis, den Lebensumständen und den finanziellen Möglichkeiten.

Viele Haushalte sind überversichert und unterversichert zugleich

Viele dieser privaten Versicherungen sind allerdings noch längst kein guter Schutz vor Risiken: 90 Prozent aller deutschen Haushalte haben nach Angaben des Bundes der Versicherten (BdV) entweder überflüssige Verträge, zu teure Versicherungen, oder es fehlt ihnen ein wichtiger Versicherungsschutz. Der BdV finanziert sich größtenteils aus den Beiträgen seiner rund 50.000 Mitglieder, die er in Versicherungsfragen berät und für deren Rechte er eintritt. Sein Grundsatz lautet, „sich immer nur gegen Risiken abzusichern, die einen existenziell bedrohen können“. De facto hat allerdings ein Drittel aller deutschen Haushalte keine Privathaftpflichtversicherung, die einspringt, wenn man einem anderen einen Schaden zufügt. „Schadensersatzansprüche können gerade bei Personenschäden in die Millionen gehen“, warnt Bianca Boss, Pressereferentin des Vereins.

Ähnlich unterversichert sind die Deutschen dem BdV zufolge auch im Falle der Berufsunfähigkeit. Die Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt eine monatliche Rente, wenn der Betroffene seinen Job aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss – fast jeder fünfte deutsche Arbeitnehmer ist betroffen. Trotzdem sind von den knapp 43 Millionen erwerbstätigen Deutschen nur 16,9 Millionen entsprechend versichert. Hinzu kommt, dass bei privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen mehr als ein Viertel der Anträge abgelehnt wird.

Eine kaputte Scheibe, ein gestohlenes Handy oder eine zerbrochene Brille sind zwar schmerzhaft, nach Ansicht des BdV lohnen sich entsprechende Sachversicherungen trotzdem nicht. Trete der Schaden tatsächlich ein, lässt sich dieser meist mit eigenen Mitteln bezahlen – und oft genug kommt es gar nicht erst so weit. Auch eine Krankenhaustagegeldversicherung dient nicht der Absicherung der eigenen Existenz.

Wieso in Deutschland so viele Menschen für überflüssige Versicherungen Beiträge zahlen? „Jeder Mensch fürchtet sich vor Schicksalsschlägen. Die Truppen der Assekuranzen machen sich das zunutze“, schreibt die Journalistin Anja Krüger in ihrem Buch „Die Angstmacher“. Und „Angst“, so Krüger, „macht Verbraucher zur schnellen Beute der Versicherer. Für jede Angst haben sie ein Angebot in der Tasche.“

Borwin Bandelow, Psychiater und Angstexperte, hat übrigens eine eher evolutionstheoretische Begründung, wieso wir uns in Deutschland so gerne versichern: „In den nördlichen Breitengraden sind die Fröhlichen und Unbekümmerten vor einigen hundert Jahren verhungert oder erfroren, weil sie nicht genug Nahrungsmittel und Brennholz für den Winter gesammelt hatten. Die Bedenkenträger, die Ängstlichen, haben hingegen überlebt.“ Auch in Deutschland hätten wir die „Ur-Angst vor dem Verhungern noch in den Genen“, meint Bandelow. „Daher kommt der Trend, dass wir uns überversichern.“Der Interessenverband GDV gibt an, dass 90 Prozent der Versicherungen im persönlichen Kontakt mit Vermittlern abgeschlossen werden. Doch sind fast alle dieser knapp 250.000 selbstständigen Makler von den Provisionen durch die Versicherungsunternehmen abhängig. Dagegen arbeiten deutschlandweit nur 300 unabhängige Versicherungsberater für ein fixes Honorar, ohne im Erfolgsfall extra zu kassieren. „Der Verdacht, dass hohe Provisionen verstärkte Verkäufe auslösen, ist leider oft traurige Realität. Das führt häufig zu falschen oder überflüssigen Verträgen“, kritisiert Versicherungsmakler Walter Benda die finanziellen Anreize seiner eigenen Branche.

Moritz Förster arbeitet als freier Journalist in Berlin. Bei den 1,4 Billionen Euro, die Versicherungen in Kapitalanlagen horten, musste er zweimal schlucken. Schließlich kann er seine eigenen Versicherungen an einer Hand abzählen.