Für einen Sebastian-Schipper-Film braucht es drei Dinge: eine Jungsclique, eine Sommernacht und ein Auto. In seinem neuen Film „Victoria“ genügt dem Regisseur dabei nur ein einziger Take, um das alles einzufangen. 140 Minuten ohne Schnitt zu drehen, das ist ein irres und in der Geschichte des Kinos nur selten da gewesenes Experiment. Und es gelingt. Entfaltet „Victoria“, halb Liebesfilm, halb Gangstermovie, doch von Minute zu Minute einen immer stärkeren Sog. Eine Berlin-Odyssee ist es, für den Filmemacher, für die Schauspieler – und für den Zuschauer.

„We show you our world“, sagt der Junge. „Okay“, antwortet das Mädchen. Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) ist erst vor kurzem in die Hauptstadt gezogen, etwas einsam und froh, nach einem Clubbesuch auf „echte“ Berliner Jungs zu treffen. Boxer, Fuß, Blinker und Sonne nennen sich die vier Möchtegerngangster und scheitern gleich mal daran, ein Auto zu knacken. Dann streifen sie mit ihrer neuen Bekanntschaft durch die Nacht, trinken Bier und bringen Victoria in mittelgutem Englisch zum Lachen. Besonders Sonne (Frederick Lau) legt sich ins Zeug, er verkörpert so eine Mischung aus Proll und Junge von nebenan. Irgendwie charmant, obwohl er so oft „Ey Digga!“ grölt. Zu ihm sagt Victoria noch häufiger „Okay“.

Wie alle Filme von Sebastian Schipper ist auch „Victoria“ einer über Freundschaft – alte und neue, vertraute und extreme, mit all ihren Hoffnungen und Risiken. Die Berliner Clique erinnert deshalb an das Trio aus „Absolute Giganten“ (1999), das sich ohne Worte verstand. Und auch an die ungleichen Kumpels aus „Ein Freund von mir“ (2006), die sich gerade erst kennenlernen. Schon in diesen Filmen gelang es dem Regisseur, jene Eigendynamik der Nacht einzufangen, die zur Bewährungsprobe für die Freundschaft wird. So wird „Victoria“, in der ersten Hälfte ein Coming-of-Age-Film, plötzlich zum Thriller: Boxer (Franz Rogowski), ein Glatzkopf im Jogginganzug, hat nämlich noch etwas zu erledigen. Vor kurzem aus dem Knast entlassen, schuldet er seinem Zellengenossen noch einen Gefallen und soll – jetzt sofort! – eine Bank überfallen. Aus Solidarität machen die anderen Jungs mit.

Auch Victoria sagt wieder „Okay“ und setzt sich hinter das Steuer des gestohlenen Fluchtwagens. In der nächsten Stunde wird sie den Zuschauer, von der Wucht des One-Takes getragen, an die Grenzen des Aushaltbaren treiben: Wenn der Motor des Wagens den Geist aufgibt, wenn sie gejagt wird, wenn an ihren Händen Blut klebt – sie aber trotz allem dableibt, die Jungs nicht im Stich lässt. „Warum macht die das alles mit?“, fragt man sich und denkt als Schipper-Fan womöglich an jene Stelle aus „Absolute Giganten“, als Floyd sagt: „Freundschaften sind wie Sehnsüchte, toll, groß, absolut gigantisch, und wenn sie dich erst mal gepackt haben, dann lassen sie dich nicht mehr los. Manchmal nie mehr.“

So werden aus den Freunden also Amateurdiebe. „Wobei der eigentliche Banküberfall natürlich der Film selbst ist“, sagt Schipper und meint damit seinen waghalsigen Versuch eines One-Takes. Ohne jeden Taschenspielertrick. Anders als etwa Alejandro González Iñárritus aktueller Oscar-Gewinner „Birdman“ kommt Schipper ganz ohne versteckte Schnitte aus.

Die Unmittelbarkeit des Drehs überträgt sich auf den Film

In drei Nächten wurde im April 2014 dreimal der gesamte Film gedreht. Von halb fünf bis sieben Uhr morgens. An 22 Schauplätzen. Mit fünf Hauptdarstellern, die sich ohne Pause durch Kreuzberg und Mitte improvisieren. Im Hinterkopf die Angst vor allem Unwägbaren: langen Ampelphasen, genervten Nachbarn, dem Wetter. „Und genau daher rührt die Unmittelbarkeit des Films“, sagt der Regisseur. „Vom Risiko, vom Druck. Das alles spüren die fünf in diesem Moment tatsächlich.“

Nur zwölf Seiten dünn war Schippers Drehbuch. Mit so einer Vorlage ist fast alles möglich, auch die eine oder andere Ungereimtheit: Die überladene Szene in der Tiefgarage zum Beispiel, in der ein blondierter Hauptstadtpate (André Hennicke) Victoria unentwegt „die Bitch“ nennt. So mancher Satz Frederick Laus, der zu pathetisch daherkommt und ein „Cut!“ verdient hätte. Oder die unlogischen Entscheidungen während der Flucht, die aus der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit der Plansequenz resultieren.

Irgendwo zwischen Späti und Elektro-Club ist Schippers One-Take zudem ein Berlin-Film. Zeigt er die Stadt doch als einen Ort, an dem alles möglich ist. Immer noch. Trotz Gentrifizierung, Wohnungsknappheit und Hipster-Kultur. Damit gesellt sich „Victoria“ nun zur Reihe der Berlin-Porträts, zu Filmen wie „Lola rennt“ (1998), „Himmel über Berlin“ (1987) oder „Berlin Alexanderplatz“ (1980). Zu Filmen, die zwar die Möglichkeiten, aber auch die Kehrseiten der Stadt aufzeigen. Denn die macht es einem nicht immer leicht. Umso wichtiger ist es, gute Freunde zu haben.