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Aber sie trug doch so oft Gucci!

Wie ein Mädchen aus Eschweiler zum It-Girl der New Yorker High Society wurde. Die Geschichte einer Hochstaplerin, die jetzt von Netflix verfilmt wurde

Anna Sorokin

Als Anna Sorokin mit ihren Eltern aus Russland nach Eschweiler bei Aachen zieht, ist sie 16 Jahre alt, und wie viele Mädchen in ihrem Alter interessiert sie sich für Mode. Ihr Vater, ein Lkw-Fahrer, macht sich mit einem kleinen Unternehmen selbstständig, der Familie geht es gut. Obwohl es Anna schwerfällt, Deutsch zu lernen, hat sie gute Noten. Nach dem Abitur bewirbt sie sich an einer Londoner Kunsthochschule und wird direkt genommen. Doch schon nach kurzer Zeit bricht sie ihr Studium wieder ab und sammelt stattdessen lieber Erfahrungen bei einer Berliner PR-Agentur, bevor sie ihr Traumpraktikum beim angesagten Pariser Modemagazin „Purple“ beginnt.

Stets in Schwarz gekleidet, dazu eine große Céline-Sonnenbrille, Gucci-Sandalen und eine Lederjacke von Prada – so taucht sie 2013 in Paris auf. Nicht nur modisch perfekt vorbereitet, überzeugt sie den berühmten Chefredakteur Olivier Zahm schnell von ihrem Talent und zieht bald mit der Redaktion um die Häuser. Gewissenhaft dokumentiert sie diese Streifzüge durch die Kunst- und Modewelt auf Instagram – zeitgenössische Kunst, Schnappschüsse mit Künstlern und anderen Celebrities, dazu schön gefilterte Momentaufnahmen. Auch ihren Namen ändert sie: Aus Anna Sorokin wird Anna Delvey.

Aus Anna Sorokin wird Anna Delvey – und eine kunstinteressierte, stilsichere Millionenerbin

Als sie noch im selben Jahr nach New York geht, erweist sich ihr sorgfältig gepflegter Insta-Account als virtuelle Visitenkarte, die ihr die Türen öffnet. Der Eindruck: eine junge Frau, die in Paris eng mit den Reichen und Schönen verkehrt. Dank ihrer Pariser Kontakte wird Anna auch in New York auf die richtigen Partys eingeladen, nicht als Ex- Praktikantin, sondern als ehemalige „Purple“-Redakteurin. Eine kleine Lüge, auf die schon bald größere folgen: Anna wohnt in einem schicken Hotel und gibt an der Rezeption reichlich Trinkgeld. Niemand kommt auf die Idee, dass die von ihr hinterlegte Kreditkarte bei Weitem nicht für die Rechnung reichen wird. Anna lässt durchblicken, dass sie eine Erbschaft von 60 Millionen Dollar erwartet, und erweckt den Eindruck, als sei Geld für sie kein Problem, sondern viel zu unwichtig, um darüber zu reden – was die Schulden, die sie bei anderen macht, einschließt. Umgeben von Künstlern und reichen Sammlern legt sie sich das passende Projekt zu: Sie will einen Kunst- und Kulturraum mit Clubcharakter in Manhattan errichten, für den sie Investoren sucht. Eine junge, kunstinteressierte, stilsichere Europäerin, Erbin eines geheimnisvollen Vermögens – diese Mischung erweist sich in Manhattan als unschlagbar attraktiv.

Anna Sorokin
Anna Sorokins Geschichte wurde mittlerweile verfilmt. Laut Berichten soll Anna nach ihrer Entlassung einen Deal mit Netflix über 260.000 Euro abgeschlossen haben

Viele ihrer neuen Freunde und Freundinnen leben verschwenderisch, zeigen sich entsprechend großzügig und scheuen sich wohl auch, eine vermeintliche Millionenerbin daran zu erinnern, dass sie ihnen ein paar läppische Hundert oder gar Tausende Dollar schuldet. So glaubt der Kunstsammler Michael Xufu Huang, dass Anna ihm das Geld für die gemeinsame Reise zur Biennale in Venedig – gut 2.000 Dollar – schon noch zurückzahlen wird. Angeblich ist Annas Kreditkarte aus Sicherheitsgründen kurzfristig gesperrt, weswegen ihr Huang das Geld auslegt. Irgendwann hat er es dann einfach vergessen, und so geht es einigen, die Annas Flüge oder Hotelrechnungen bezahlen.

Vielleicht hat Anna tatsächlich die Absicht, eines Tages alle Schulden zu begleichen. Vielleicht ist sie wirklich davon überzeugt, dass sie ihr Kunst- und Kulturraum, der ihr bis ins kleinste Detail vor Augen schwebt, bald zur Millionärin macht. Dank ihrer Kontakte gelingt es ihr tatsächlich, bei einer Bank und einer Investmentfirma ein offenes Ohr zu finden. Es geht um einen Kredit über 22 Millionen Dollar. Da Anna weder Vermögen noch ein stabiles Einkommen hat, fälscht sie Kontoauszüge, die beweisen sollen, dass ihre Eltern Millionäre sind. Die Kommunikation übernimmt der „Anwalt der Familie“, den sie auch frei erfunden hat: eine gefälschte E-Mail-Adresse, ein Prepaid-Handy und jede Menge Wagemut – fast wird ihr der Kredit bewilligt. Doch irgendwann fordert eine Bank eine Sicherheit von 100.000 Dollar. Wieder handelt Anna prompt und geht zu einer anderen Bank (die sie mit den gleichen gefälschten Dokumenten versorgt), mit der Bitte um eine Erweiterung ihres Dispos – auf 100.000 Dollar. Nun wähnt sich Anna kurz vor dem Ziel. Doch wenig später meldet sich das kreditgebende Institut mit dem Wunsch, Annas Banker in der Schweiz zu treffen. Entsetzt macht sie einen Rückzieher, denn einen echten Schweizer Banker kann auch sie nicht faken. Von den 100.000 Dollar bleiben 55.000, den Rest behält die Bank als Gebühr.

Langsam beginnt Anna Delveys Fassade zu bröckeln

An dieser Stelle wird die Geschichte etwas chaotisch: Anstatt der anderen Bank das restliche Geld zurückzugeben, beginnt sie, es mit vollen Händen auszugeben. Vielleicht glaubt Anna daran, in letzter Minute noch einen privaten Investor von ihrer Idee überzeugen zu können. Doch selbst 55.000 Dollar reichen nicht, wenn man in den teuersten Hotels wohnt, Unmengen für Frisuren, Wimpernverlängerungen, Schuhe und Kleider ausgibt und mit Trinkgeldern um sich wirft. Mit gefälschten Schecks verschafft sie sich noch etwas Zeit, doch irgendwann schuldet sie dem Hotel mehr als 30.000 Dollar. Ein guter Moment, um für eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden. Für einen kurzen Wellnessurlaub fliegt sie mit ein paar Freundinnen nach Marokko. Die Flüge übernimmt ihre Freundin Rachel, weil Annas Kreditkarte leider mal wieder „verrückt spielt“.

In Marokko sind die Freunde angesichts der luxuriösen Unterkunft sprachlos. Anna hat sich in ihrer Großzügigkeit selbst übertroffen. Bis nach einigen Tagen das Hotel darauf dringt, dass endlich eine Kreditkarte für die Buchung hinterlegt werden müsse. JETZT. Nachdem keine von Annas zwölf (!) Karten funktioniert, bleibt Rachel nichts anderes übrig, als ihre anzubieten. Monatelang läuft sie daraufhin Anna und den 62.000 Dollar, die sie „ausgelegt“ hat, hinterher, bis sie sich verzweifelt an das FBI wendet. Ihre „Freundin“ Anna, das hatte Rachel mittlerweile begriffen, ist eine Hochstaplerin und wird dank ihrer Anzeige im Jahr 2019 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Insgesamt hatte sie Bekannte, Hotels und Banken um etwa 275.000 US-Dollar betrogen.

Auch den Gerichtssaal nutzt Anna als Bühne. Ihre Auftritte in teuren Outfits greifen die Medien gern auf. Wegen guter Führung und unter Berücksichtigung ihrer Untersuchungshaft im Februar entlassen, postet sie auf Instagram Bilder, die einem irgendwie bekannt vorkommen: Anna, inzwischen 30, in New Yorker Nobelhotels, beim Champagnertrinken oder in teuren Markenklamotten. Und schon bald kommt auf Netflix eine Miniserie über ihr Leben. Sie heißt „Inventing Anna“.

„Inventing Anna“ läuft ab dem 11. Februar bei Netflix. 

Fotos via Instagram

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