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Ja, es lebt

Früher hieß Bollewick in Mecklenburg-Vorpommern das „stinkende Dorf“. Nach der Wende wäre der Ort fast ausgestorben. Wieso kam es nicht dazu?

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In einer Scheune kann man Tiere unterbringen oder eine Menge Heu. Man kann Leute, die Lust auf Landleben und keinen Heuschnupfen haben, im Stroh übernachten lassen. Man kann Partys in der Scheune feiern oder alte Autos darin abstellen, man kann die Scheune anzünden, um die Versicherung zu betrügen, oder einfach verfallen lassen. Für all das gibt es in der deutschen Provinz viele Beispiele.

In Bollewick aber, einem Dorf unweit der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern, hatten die Leute noch andere Ideen. Die Scheune dort ist ziemlich groß, 125 Meter lang und 34 Meter breit. Damit, so dachten sich die Bollewicker, muss sich doch noch mehr anstellen lassen.

Heute kann man in der Scheune übernachten, nicht im Stroh, sondern in bequemen Betten. In einem richtigen Hotel. Es gibt auf zwei Etagen Lebensmittelstände mit Wurst, Honig oder Sanddornsaft aus Mecklenburg, einen Bäcker und sogar einen Friseur. Im Grunde genommen müsste man nie mehr raus aus diesem dörflichen Shoppingcenter, es ist alles da.

Die Scheune ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Orte verändern können. Und dafür, wie ihnen Menschen eine neue Bedeutung geben, neues Leben einhauchen. Früher, zu DDR-Zeiten, war die Scheune ein Ort, um den die Menschen einen großen Bogen machten. „Das stinkende Dorf“ wurde Bollewick genannt. 650 Kühe lebten zusammengepfercht in der Scheune, nachdem die DDR-Führung viele kleine Bauernhöfe in einer riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) kollektiviert hatte. Die sozialistische Massentierhaltung vergiftete die Böden und die Gewässer im Umland, für den Protest gegen diese Umweltverschmutzung geriet man schnell ins Visier der Stasi. So erging es auch Bertold Meyer, der vor 62 Jahren in Bollewick geboren wurde und erlebte, wie seine Eltern ihre Selbstständigkeit als Bauern verloren – und wie das Land vergiftet wurde. Erst mit der Wende kam für ihn die Gelegenheit, in seinem Heimatort die Dinge zum Besseren zu verändern. „Wolfserwartungsland“ oder „Altersheim der Nation“, so habe man Anfang der 1990er-Jahre über viele Regionen in Mecklenburg-Vorpommern gelästert, weil die Menschen in Scharen weggezogen seien, nachdem die meisten DDR-Betriebe dichtmachten. „Auch heute noch reden viele von Dunkel-Deutschland, wenn sie Orte wie diesen meinen“, sagt Meyer, der nach der Wende ehrenamtlicher Bürgermeister wurde – wohl weniger, weil er es wollte, sondern weil sonst niemand Lust auf den Job hatte. Und auch, weil er schon ein paar Ideen hatte, wie der aussterbende Ort seinem Schicksal entgehen könnte.

Dabei war die Scheune der Beginn vom Neuanfang. Meyer verhinderte, dass sie abgerissen wurde. Die Trümmer hätten im ohnehin kontaminierten Dorfteich versenkt werden sollen. Stattdessen ging die Scheune in den Besitz der Gemeinde über. Zunächst hatte er gehofft, dass irgendein Aldi oder Lidl einzieht, aber die winkten alle ab. Zum Glück. Schließlich bekam Meyer Zuschüsse von EU, Bund und Land für seinen Plan, die größte Feldsteinscheune Deutschlands zu renovieren. Dass sich viele Touristen locken ließen, lag auch an der Nähe zur Mecklenburgischen Seenplatte.

Mittlerweile kommen im Jahr mehr als 100.000 Besucher, 70 Menschen haben in der Scheune Arbeit. Manche von ihnen pflegen noch alte Handwerksberufe wie Kürschner oder Holzdrechsler und verkaufen die Produkte direkt aus der Werkstatt.

Die Scheune war der Beweis, dass sich in Bollewick was machen ließ. Meyers Tatendrang war belohnt und noch mal gesteigert worden. Das nächste große Ding war dann die Sache mit dem Mist.

Die Inspiration kam ihm, als Mitte der Nullerjahre mal wieder ein durchreisender Experte in der Scheune einen Vortrag hielt, diesmal über regenerative Energien. Im kleinen Bürgermeisterbüro in der Scheune fragte der Experte an-schließend, warum man denn in Bollewick von der krumm gewachsenen Rübe über das gemähte Gras bis hin zu den Holzabschnitten vom Wegesrand alles wegschmeiße? Ob sie denn noch nie etwas davon gehört hätten, dass all das in kleinen Kraftwerken schön vorsich hingären könne, um die umliegenden Haushalte mit Strom und Wärme zu versorgen. Worte, die in Bollewick wie Samen auf fruchtbaren Boden fielen.

Heute ist Bollewick ein sogenanntes Bioenergiedorf. Das heißt, es produziert den Strom, den die Menschen benötigen, in Biogasanlagen. „Bollewick ist nicht unbedingt schön“, sagt Meyer. „Aber wir haben erkannt, welches Potenzial unser Dorf hat.“ Mit einem Lächeln zeigt er auf den Gehweg. Darunter sind die Nahwärmerohre verlegt, die das Dorf mit Warmwasser versorgen. Wie eine Fußbodenheizung sei das im Winter. Die Leitung verläuft entlang der Durchgangsstraße. Im Minutentakt fahren Traktoren und Güllewagen vorbei. An einem lindgrünen Holzhaus biegen sie in einen Feldweg ab. Im hinteren Teil des kleinen Hauses sind die Wärmepumpen fürs Dorf untergebracht; im vorderen bekommt man rund um die Uhr Grillfleisch, Käse aus der Region oder frische Milch aus dem Automaten.

Eine der zwei Biogasanlagen steht auf dem Land von Hendrikus van der Ham, der vor 14 Jahren aus den Niederlanden hierherzog, um den Hof eines verstorbenen Bauern zu übernehmen. Damals war er 24. In seiner Heimat könne man sich kaum noch etwas Eigenes aufbauen, so teuer sei Ackerland dort, sagt van der Ham. Der Strom, den er zusam- men mit seinem Nachbarn aus Gülle und Pflanzen produziert, reicht für etwa 3.000 Haushalte, viel mehr, als es in Bollewick gibt.„Ich mach aus Scheiße Gold, könnte man sagen“, lacht van der Ham. Ob die Dorfbewohner ihn als Eindringling sehen? „Nein.Die sind froh, weil es billiger ist als Heizöl und das Geld nicht bei Putin landet, sondern in ihrer Region bleibt. Und wir schaffen Arbeitsplätze. Über fünf Millionen Euro hat die Umrüstung in ein Bioenergiedorf gekostet, einen Großteil davon haben die Landwirte übernommen.

Es gibt nun sogar LED- Straßenlampen. Und es gab den Traum von einem Elektrobus, der von einem Windrad gespeist wird, aber ein seltener Vogel brütet in der Nähe und hat den Bau verhindert. Dennoch gibt es seit ein paar Wochen wieder einen öffentlichen Nahverkehr in Bollewick. Die drei Kleinbusse fahren die Dorfbewohner auf Abruf selbst.

Bollewicks Einwohnerzahl ist seit der Wende gestiegen. Viele finden im Dorf Arbeit, andere pendeln in größere Orte, manche kommen auch nur am Wochenende. Wie viele Menschen hier ihre Zukunft sehen, zeigen auch die drei Kindertagesstätten. Das Dorf gehört zu den jüngsten Gemeinden der Region. Und das, obwohl Bollewick auch ältere Menschen anlockte.

Menschen, die gemeinsam alt werden wollen, sollten sich hier ansiedeln. Diese Idee scheiterte jedoch: Zwölf bunt gestrichene Holzhäuser stehen hufeisenförmig in der neu angelegten Straße, „Unterm Regenbogen“ heißt sie. Viele zogen aus Westdeutschland hierher. Jetzt seien sie untereinander so zerstritten, dass einige ihr Haus wieder verkaufen wollen. Andere haben es nie bezogen. „Ein paar Rückschläge gehören dazu“, kommentiert Bertold Meyer.

Ein Dorf in Deutschlands Osten, das Menschen anzieht, wo doch sonst nur von Orten die Rede ist, die aussterben. Ein Dorf auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg als Labor für Innovationen: Mittlerweile interessiert man sich auch andernorts dafür, wie Bollewick sein Comeback geschafft hat. Aus vielen Ländern kommen Unternehmer und Politiker zu Besuch. Sie wollen ihre Dörfer in Russland, Brasilien oder Vietnam lebenswerter machen. Die Besucher bestaunen dann die Scheune, sie kaufen handgemachte Kleidung oder Seidenblumen, essen Würste aus Mecklenburg und lassen sich über die Energiegewinnung aufklären. Und sehr schnell wird ihnen klar, dass das wichtigste Kraftwerk nicht auf dem Feld herumsteht. Es hat seinen Sitz in einem kleinen Büro in der Scheune.

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